Aktuelles


Für ein gutes Leben

Wie kann gutes Leben gelingen, wenn die Menschen heute schon von klein auf in ein Hamsterrad geraten, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt? Stress und Abhängigkeiten gehören inzwischen schon zum Alltag von Kindern und Jugendlichen und takten rücksichtslos auch den Alltag der Eltern und Erwachsenen. Wer mit der rasanten Entwicklung der Gesellschaft mithalten will, die/der muss sich einspannen lassen in die Zwänge der Arbeit, die Hektik des tonangebenden Freizeitverhaltens, des Konsums. Was dabei am Ende herauskommt, zeigen die Burn-out-Statistiken, die Erschöpfungszustände und Erkrankungen an Leib und Seele, welche augenscheinlich auch bei uns im Lande immer mehr zunehmen. Wen wunderts?

Wir sind inzwischen rund um die Uhr online im Internet, regeln Einkäufe, Zahlungen und Urlaubsplanungen, ja sogar unsere menschlichen Beziehungen mit dem Smartphone, teilen selbst die intimsten Dinge im Netz und kommen aus diesem Teufelskreis leider nicht mehr heraus, denn die technologische Entwicklung geht ja immer weiter und ist Fluch und Segen zugleich. Was also tun?

Das Zauberwort heißt Work-Life-Balance! Demnach sollten wir Arbeit und Freizeit in ein gesundes Verhältnis bringen. Der europäische Trend geht inzwischen unter Nutzung moderner Technologien zu effizienterem Arbeiten (smart working) und damit zur Generierung von mehr Freizeit. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung Südtirols kann sich inzwischen laut Umfragen die 4 Tage-Woche vorstellen. Gut und recht, wenn dieser neue Trend nicht in einen Freizeitrausch mündet, der wiederum Abhängigkeit bedeutet. Mal abgesehen davon, dass Freizeit ziemlich kostspielig ist, setzt sie mittlerweile immer und überall Trends, denen sich auf Dauer niemand entziehen kann. Man denke nur an die Mobilität und an die verschiedensten sportlichen Betätigungen im Winter wie im Sommer. Da sind dem Geldbeutel keine Grenzen gesetzt, jede/r will alles haben. Und niemand sitzt am Wochenende zu Hause und widersetzt sich den Zwängen. Am ehesten noch die Großeltern-Generation, die schon im Krieg und in der Nachkriegszeit Bescheidenheit und Verzicht gelernt hat. Wir sind leider eine Gesellschaft voller Widersprüche, vertragen es nur schlecht, wenn man uns den Spiegel vorhält und verstricken uns zudem in Forderungen nach Scheinlösungen. Wenn wir wirklich entschleunigen wollen, dann kommen wir um Verzicht und Rückbau des exorbitanten und verschwenderischen Wohlstandes nicht herum.

Ein gutes Leben ist auf Dauer auch in unserer Zeit nur möglich, wenn wir von unseren Vorfahren lernen, dass etwas weniger von allem oft mehr ist. Wenn wir das Einfache und Natürliche wieder schätzen lernen. Wenn wir also zurückkehren zu unseren menschlichen Wurzeln und Werten, die ein Leben tragen ohne fremde und künstliche Hilfe, aber in solidarischer Nachbarschaft. Ausgewogenheit ist nur schaffbar, wenn wir Herz und Verstand in Einklang bringen, wenn wir Haben und Sein gleichermaßen in die Waagschale legen. Und das ist machbar!

Südtirol-ein Naturparadies im Belagerungszustand

Nun liegen die Daten schwarz auf weiß vor. Südtirol hat 2023 wieder einen Gästerekord eingefahren: 36 Millionen Übernachtungen. Wenn man bedenkt, dass wir in unserem Land rund 500.000 Einwohner zählen, dann ist das ein überaus stolzes Ergebnis und bildet, mit Verlaub, zugleich ein alarmierendes Missverhältnis ab, welches zu denken geben sollte. Und dennoch scheint es bei den Tourismusmanagern kein Umdenken, kein Ende des Wachstumsgedankens zu geben. Sogar unser weltweit gefeierter Alpinist Reinhold Messner ist anscheinend davon überzeugt, dass wir noch mehr Tourismus vertragen, wenn wir ihn anders verteilen. Die freie Marktwirtschaft lebt, wie wir alle wissen, vom: schneller, höher, weiter. Jede Begrenzung wird als Rückschritt oder zumindest als Stillstand angesehen. Und wer will schon auf Bequemlichkeit, Wohlstand und Luxus verzichten? Selbst die erschreckenden Folgen der Klimaerwärmung, die augenscheinlichen Probleme mit der ausufernden Mobilität, der folgenschwere Fachkräftemangel und der Ausverkauf der Heimat samt der damit zusammenhängenden Verknappung des sozialen Wohnraums, um nur einige Probleme zu nennen, hindern uns nicht daran, weiter zu machen wie bisher. Während die Sorgen und Bedenken über diese Entwicklung in der Bevölkerung zunehmen, spricht die Politik erst zögerlich und halbherzig von Nachhaltigkeit und scheint nicht in der Lage, diese auch im politischen Handeln konsequent durchzusetzen. Dabei heißen die alles entscheidenden Fragen aus meiner Sicht: Wollen wir als freie und demokratische Gesellschaft wirklich den letzten Winkel unseres einmaligen Landes bedingungslos vermarkten? Wollen wir uns wirklich das ganze Jahr über im eigenen Land vor lauter Gästen nicht mehr heimisch fühlen? Wollen wir es wirklich einigen wenigen Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik überlassen, über die Zukunft unseres Landes zu entscheiden und der Überfremdung Tür und Tor öffnen? Wollen wir die Magie und den Zauber unserer alpinen Naturlandschaft wirklich aufs Spiel setzen?

Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist die gesamte Bevölkerung Südtirols in die Pflicht genommen, sich einzubringen und eine Schubumkehr einzufordern. Was wir brauchen ist ein schlüssiges und für alle Akteure verbindliches Konzept für einen sanften Tourismus, der im Konzert mit anderen Wirtschaftsbereichen den derzeitigen Wohlstand in unserem Lande zu erhalten und für die Zukunft abzusichern imstande ist. Das müsste doch Herausforderung genug sein, denn unser aller Wohlergehen steht auf dem Spiel und darf nicht dem ungebremsten Spiel der Kräfte des freien Marktes geopfert werden. Die Zukunft unserer Heimat und der kommenden Generationen muss es uns wert sein, Maß zu halten.

Ein Requiem für Nawalny

Ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr mir in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Romane des Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn unter die Haut gingen. Archipel Gulag, seine Abrechnung mit der Diktatur Stalins, wirkt noch heute wie ein Stromschlag für alle freiheitsliebenden und demokratisch gesinnten Menschen. Dabei hatten wir als Nachkriegsgeneration bereits in den Auschwitzprozessen das ganze Ausmaß der Gräuel und Verbrechen der Nazidiktatur erfahren und waren bis in die Grundfesten unseres Menschseins erschüttert. Die Bilder und Berichte aus den Konzentrationslagern der Nazis von Primo Levi, Imre Kertész, Jorge Semprun, um nur einige zu nennen, öffneten uns definitiv die Augen über dieses mörderische und menschenverachtende Regime, und wir waren wohl etwas zu blauäugig in der Annahme, dass mit der Niederlage Hitlers diesem Spuk ein für alle Mal ein Ende bereitet worden wäre. Doch im Osten Europas gingen unter Stalin das Morden und die Vernichtung vor allem der Intelligenzia, ja sogar ganzer Volksgruppen weiter. Die Straflager im tiefsten Sibirien - ein beredtes Mahnmal für die systematische Auslöschung der Menschlichkeit. Doch aus der Ferne und in Freiheit ließ sich die Grausamkeit Stalinscher Diktatur nur vage und vielleicht sogar etwas verharmlosend nachempfinden, bis ich dann Anfang der Nuller-Jahre das monumentale literarische Werk von Warlam Schalamow entdeckte. Als Überlebender wiederholter Deportation und Lagerhaft lesen sich seine Erzählungen aus der Kolyma wie Zeugnisse des Schreckens aus der Finsternis. Hier, in diesen Vernichtungslagern am nördlichen Polarkreis in Sibirien, in der Ausweglosigkeit und Brutalität der Gefangenschaft, hier vollzieht sich das Danteske Inferno. Diese Lektüre hinterließ unauslöschliche Spuren des Grauens.

Und jetzt erreicht mich wieder ein Roman aus Russland, der der Zensur zum Opfer gefallen und lange verschollen geglaubt schien. Fone Kwas oder Der Idiot von Georgi Demidow. Gemeinsam mit Schalamow hat Demidow das Grauen der Lagerhaft überlebt und ruft uns nun in deutscher Übersetzung des Romans ins Gedächtnis, dass Folter und Lagerhaft in Russland immer Hochkonjunktur hatten und jetzt auch unter Putin immer noch haben. Diktatur lebt von Repression, Verfolgung und gewaltsamer Auslöschung. Und so lese ich dieses Werk wie ein Requiem für den Putin-Kritiker Alexei Nawalny, der nun ebenfalls im Straflager für immer verstummt ist. Die beängstigende Vision, die Franz Kafka in seiner frühen Erzählung In der Strafkolonie vorhergesehen hatte, ist  vollzogen, das Urteil vollstreckt und von einem mörderischen Folterapparat in die Haut des Verurteilten eingeschrieben. Doch nicht genug der Tragödie. Mit seinem Überfall auf die Ukraine beweist Putin einmal mehr, dass ihm Leben in Freiheit überall auf der Welt ein Dorn im Auge ist, dass nur Gewalt und Terror sein Denken bestimmen. Das eigene Volk durch Repressalien in Angst und Schrecken versetzt, und die gefügige Justiz zur Erfüllungsgehilfin degradiert: das ist die wahre Fratze der Diktatur.

jd  

Unsere Demokratie in Gefahr

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie

Die Inventur, die Quinn Slobodian in seinem neuesten Werk Kapitalismus ohne Demokratie zur derzeitigen Lage der Demokratien in der Welt vorlegt, ist ernüchternd und erschütternd zugleich. Die Grunderkenntnis kann in einem Satz zusammengefasst werden: Das globale Kapital hat sich längst von der Demokratie verabschiedet und setzt alles daran, diese in ihren Grundfesten zu zerstören. Die „Anarchokapitalisten“, wie sie Slobodian treffend bezeichnet, setzen auf die uneingeschränkte Vormachtstellung des freien Marktes und vernetzen sich international notfalls auch mit den Diktaturen dieser Welt, um durch Kapitalflucht in reale oder virtuelle Steueroasen dem Sozialstaat den Garaus zu machen. Bürgerrechte hindern in ihren Augen den freien Markt und knebeln unnötig die Geldflüsse. Für die neolibertäre Finanz-Elite sind autoritäre Regierungen, welche die freien Märkte schützen, Demokratien, die die Märkte regulieren, vorzuziehen. Was Wunder, wenn im Fahrwasser solcher Ideologien gefestigte Demokratien ins Wanken geraten, der Neo-Faschismus und autoritäre Systeme weltweit Blüten treiben. Denn diese Kleptokraten verfügen über das nötige Kapital, sind bestens vernetzt im Cyberspace und bestimmen mit Hilfe der Internetriesen im Silicon Valley die digitale Kommunikation. Und, last but not least, sie unterstützen mit kräftigen Finanzspritzen gleichgesinnte politische Kräfte wie die AFD, die alles daransetzen, unsere Demokratie zu zersetzen. Spätestens jetzt müsste allen demokratisch gesinnten Politikern klar werden, dass sie dabei sind, die Macht über die Spielregeln eines funktionierenden Sozialstaates aus den Händen zu geben. Wenn erst der Kampf um die letzten Ressourcen auf unserem Planeten begonnen hat, der Kampf ums Wasser, um Grund und Boden, um saubere Luft, ums nackte Überleben, dann spätestens wird sich zeigen, dass ungebremste Privatisierungen, der Ausverkauf der Lebensgrundlagen die Menschheit in den Abgrund führen.

Slobodian beschreibt detailliert, wie diese neoliberalen Wagnisgeldgeber a la Peter Thiel, Gründer von Paypal, ticken und wie systematisch und strategisch sie vorgehen. „Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind. Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen.“ (O-Ton Thiel). Aussagen wie diese sollten uns aufhorchen lassen, denn Milliardäre träumen mittlerweile davon, sich dem Staat zu entziehen, Löcher in das soziale Gewebe zu bohren, auszusteigen und dem Kollektiv den Rücken zu kehren.

An Hand von konkreten Beispielen untermauert der Autor seine Aussagen und begleitet die Leser auf eine Reise in die skurrile Welt neolibertärer Denkansätze. Von Dubai, über Hongkong, Singapur, Somalia, Honduras, Liechtenstein (ein Sonderfall) und die Docklands in London führt diese Tour de Force in eine Parallelwelt, die längst nach eigenen Gesetzen funktioniert. Das Buch öffnet der Leserschaft die Augen und ist ein Weckruf für alle demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürger. Die Schere zwischen Arm und Reich wird in Zukunft noch mehr Sprengkraft erhalten und unser friedliches Zusammenleben auf dem Planeten unwiderruflich zerstören. Die Wohlstands-, Spaß- und Freizeitgesellschaften und mit ihnen die Demokratien werden vom Erdboden verschwinden. Zum besseren Verständnis dieser Aussagen empfiehlt sich die Lektüre des von der liberalen Nichtregierungsorganisation Freedom House alljährlich veröffentlichten „Freedom in the World“ – Index, der nicht das Maß an individueller Freiheit misst, sondern die Freiheit des Marktes ohne Einschränkungen durch den Sozialstaat. Steuern sind in den Augen der Anarchokapitalisten Diebstahl. Wohl ihnen, wenn sie Erfüllungsgehilfen eines Kalibers von Donald Trump gewinnen und mit Hilfe demokratischer Institutionen irreversiblen Schaden in der auf der Freiheit der Menschen errichteten Zivilgesellschaft anrichten. Und sie entwickeln diese radikalen und extremistischen Ideen nicht etwa hinter vorgehaltener Hand, sie werden gekonnt und rücksichtslos in Szene gesetzt und via Internet manipulativ unters Volk gestreut. Man muss die Anschauungen nur oft genug und auf allen Medien verbreiten, und schon generieren sie Anhänger auch unter Menschen, die die Konsequenzen solcher Überlegungen nicht unmittelbar bedenken.

Was also tun? Die Stunde für eine grundlegende Erneuerung unserer Demokratien hat längst geschlagen. Alle freiheitlich und demokratisch gesinnten Menschen sind gefordert, diese Erneuerung mitzugestalten und ihre Stimme klar und deutlich zu erheben. Schauen wir nicht länger tatenlos zu, sondern packen wir‘s an!

josefduregger.eu

Die politische Debatte als Spiegelbild unserer gespaltenen Gesellschaft.

Man fragt sich zu Recht mit Besorgnis, wie es kommen konnte, dass nach einem guten halben Jahrhundert nach der bitteren Kriegserfahrung und den für unser Land verheerenden Folgen des Faschismus die politische Debatte und Auseinandersetzung in der Bevölkerung und den politischen Parteien mittlerweile Formen angenommen haben, die uns alle zu denken geben sollten. Von persönlichen Angriffen und Verleumdungen, von Hetze, Häme und Gewaltverherrlichung ist alles auf die mediale politische Bühne gerückt und vergiftet damit den täglichen Umgang miteinander. Wo ehedem Argumente und eine lebendige Streitkultur den Ton angegeben haben, sind nun immer öfter die ungefilterten Emotionen und persönlichen Entgleisungen an der Tagesordnung. Ja man hat gelegentlich sogar den Eindruck, dass sich einzelne politische Akteure in Gehässigkeit und sprachlichem Wutvokabular gegenseitig zu übertrumpfen suchen. Dabei klingen die Anleihen bei der AFD Deutschlands und den radikalen rechtsgerichteten Kräften in Europa und anderswo unverkennbar durch. Wohin das letztendlich führt? Ich glaube, dass dadurch unsere Demokratie in Frage gestellt wird und sich eine Entwicklung anbahnt, die sich die allermeisten von uns noch gar nicht vorstellen können. Nicht umsonst hat Arno Kompatscher letzthin bei seiner Wahl zum Landeshauptmann im Südtiroler Landtag eine verbale Abrüstung angemahnt und alle politischen Akteure zu mehr Sachlichkeit und Dialog aufgerufen. Ob seine Einladung Früchte tragen wird, darf angesichts der derzeitigen Stimmung im Lande bezweifelt werden. Als Wohlstandsland im Herzen Europas sollten wir uns wieder unserer tragenden Werte aus der Geschichte unseres Landes erinnern und zurückfinden zum gegenseitigen menschlichen Respekt und zur Achtung der menschlichen Würde. Gerade wegen des demokratiepolitischen Wertes unterschiedlicher und auch gegensätzlicher Anschauungen und der uneingeschränkten Verteidigung der Meinungsvielfalt, sollten wir doch im Sinne eines friedlichen und zivilisierten Zusammenlebens das sachliche Gespräch, einen respektvollen Umgang miteinander und eine Streitkultur pflegen, die den Menschen nie in seiner Würde verletzt. In diesem Sinne sind alle Menschen guten Willens aufgerufen, Flagge zu zeigen und einen Beitrag zu leisten. Ein neuer, menschlicher Dialog muss sich aus der Mitte unserer Gesellschaft Bahn brechen. Da sind die Schulen und Bildungseinrichtungen, die Kirche und alle öffentlichen Institutionen und nicht zuletzt die schweigende Mehrheit in der Bevölkerung gefordert. So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen.

josefduregger.eu

Landtagswahl 2023 - ein Weckruf für Südtirol

Südtirol hat einen neuen Landtag gewählt und die politische Landkarte radikal neu gezeichnet. Bahnt sich auch bei uns eine Zeitenwende an? Beim genaueren Hinterfragen der Wahlergebnisse scheinen mir folgende Aspekte richtungweisend:

  1. Was seit dem Faschismus in Stein gemeißelt schien, die Tatsache nämlich, dass sich die deutsche Minderheit im Staate mehr oder weniger geschlossen hinter einer politischen Partei versammelt, um die Interessen der Südtiroler*innen Rom gegenüber mit einer Stimme zu vertreten, diese Tradition gehört endgültig der Vergangenheit an. Die Sammelpartei aller Südtiroler*innen, die SVP, hat gewaltig Federn lassen müssen und ist von den Wählerinnen und Wählern bitter abgestraft worden. Die Ursachen und Gründe dafür liegen zu einem überwältigenden Teil in der Volkspartei selbst, die in den letzten Jahren durch Selbstzerfleischung von sich reden machte. Es scheint, als habe sie über weite Strecken den politischen Kompass und den inneren Zusammenhalt verloren.
  2. Noch nie sind bei einer Landtagswahl so viele Parteien und Gruppierungen angetreten. Ein vielsagendes Bild der Zersplitterung und der politischen Radikalisierung in unserer Gesellschaft, die vor allem seit Corona ganz augenscheinlich zu Tage treten. Steuern wir damit bereits auf gesamtstaatliche Verhältnisse der politischen Instabilität zu oder sind wir auch in Südtirol ein Stück weit vielstimmiger, also demokratischer geworden? Zu denken gibt dennoch, dass es nicht einmal ähnlich gesinnte Parteien im Oppositionslager geschafft haben, sich auf ein gemeinsames Programm, auf einen Minimalkonsens zu verständigen und gemeinsam zur Wahl anzutreten. Auch sie haben daher fast alle in der Gunst der Wählerschaft an Zustimmung eingebüßt. Es geht vielen nicht mehr und ausschließlich um das Allgemeinwohl, sondern vielfach um Partikularinteressen, um Selbstdarstellung und das lautstarke Durchsetzen eigener Anschauungen.
  3. Auffallend ist auch ein politischer Rechtsruck in unserm Lande, der zwar im europaweiten Trend liegt, aber dennoch oder gerade deshalb Anlass zu Sorge gibt. Die Verschwörungstheoretiker*innen und populistischen Sprücheklopfer*innen haben anscheinend auch bei uns Zulauf, vor allem in der jungen Wählerschaft. Die Hauptursachen für diese besorgniserregende Entwicklung mögen zwar Enttäuschung und Frustration über das Versagen der politischen Führung in den letzten Jahren sein und nicht gänzlich in der ideologischen Überzeugung begründet liegen, aber die Türen sind aufgestoßen für nationalistische und rassistische Äußerungen und Haltungen, für politische Brandstifter*innen, für die Destabilisierung demokratischer Institutionen.
  4. Abgestraft wurden von der Wählerschaft indirekt auch die großen Verbände im Lande, die durch ihre kontinuierliche und selbst vom Landeshauptmann oft beklagte Lobbyarbeit der vergangenen Jahre die Politik über weite Strecken von außen wesentlich beeinflusst haben. Gelegentlich ist sogar der Eindruck entstanden, dass nicht der zuständige Landesrat /die zuständige Landesrätin oder gar die Landesregierung das letzte Wort haben, sondern die Obmänner der Verbände. Dass diese Haltung und Vorgehensweise bei der Bevölkerung auf Dauer auf Ablehnung stoßen, mussten die Betroffenen über schmerzliche Stimmen-Verluste ihrer Kandidaten*innen erfahren. Das lässt sie in Zukunft vielleicht doch etwas demütiger werden und die Interessen ihrer Mitglieder in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang betrachten.

Was ist zu tun?

Die Unsicherheit und Enttäuschung sind vorerst einmal groß, doch nach und nach besinnen sich die Parteien hoffentlich wieder auf ihr Kerngeschäft, auf ihre wahre Aufgabe, auf ihre Verantwortung für das Land. Die Wahlschlappe kann demnach auch eine Chance für eine Erneuerung sein. Nichts braucht die Gesellschaft zurzeit mehr als Politiker*innen, die sich mit Herzblut der Probleme der Bevölkerung annehmen, die eine verbindliche Antwort geben auf ihre drängenden Fragen, die in schwierigen Zeiten Orientierung geben auf dem Weg in eine Zukunft, die vielerorts wieder von Krieg, Katastrophen, Vertreibung gekennzeichnet ist und besorgniserregende Auswirkungen auch auf das Leben in unserem Lande hat. Dazu kommen die nicht mehr enden wollenden Krisen der letzten Jahre, wie Corona, Klimaerwärmung, Inflation, Migration und der Verfall bisher geteilter Werte in der Gesellschaft, welche vielen Bürgern*innen Angst machen. Es braucht wieder Politiker*innen, die nicht bei jedem Wort und bei jeder Initiative ausschließlich an ihre Wiederwahl denken. Es braucht Politiker*innen, die der Sache dienen und ihren Einsatz ehrlich nach außen kommunizieren. Und es braucht schlussendlich Politiker*innen, die sich bei uns im Lande mit Überzeugung und einem Schuss Optimismus an die Arbeit machen und mit Tatkraft der Probleme der Menschen annehmen, die da lauten:

  • Sicherstellung einer gediegenen und zukunftsfähigen Ausbildung der Kinder und Jugendlichen in einem hochwertigen dualen Bildungssystem (Investition in die Köpfe)
  • Sicherstellung eines gut funktionierenden und patientenorientierten Sanitätswesens
  • Ausbau der Forschung und Innovation und Schaffung hochqualifizierter Arbeitsplätze im Lande (Rückführung unserer Akademiker*innen aus dem Ausland und schrittweise Behebung des Facharbeiternotstandes)
  • Neue Formen von Betreuungsinitiativen für Kleinkinder und vorausschauende Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf
  • Beschaffung von leistbarem Wohnraum durch gezielte Förderprogramme und strenge gesetzliche Bestimmungen gegen den Ausverkauf der Heimat an ortsfremde Investoren oder internationale Kapitalgesellschaften
  • Maßnahmenpaket zur Behebung des Pflegenotstandes in unserer alternden Gesellschaft und zur Bekämpfung der Armut im Lande
  • Konkrete Maßnahmen zur Eindämmung einer drohenden Klimakatastrophe
  • Europaweit koordinierte Eindämmung einer ungebremsten Migration und Zuwanderung und konsequente Rückführung von straffällig gewordenen Migranten. Ungebremste Migration hat nämlich das Potential, unsere demokratischen westlichen Gesellschaften auf Dauer zu spalten.

Der Anfang für eine neue Entwicklung und Zukunft Südtirols ist inzwischen – nach zähen und turbulenten Verhandlungen und öffentlichen Protesten - mit der Konstituierung der Landesregierung gemacht. Viele Landsleute hätten sich fürwahr eine andere parteipolitische Zusammensetzung derselben gewünscht (vor allem die extremistische postfaschistische Partei Fratelli d’Italia stößt schon aus historischen Überlegungen zurecht auf Ablehnung), doch nicht alle Akteure*innen waren anscheinend zu Kompromissen in der Programmerstellung für den Fahrplan der kommenden Legislatur bereit. Und ohne Kompromisse und Verständigung auf einen grundlegenden Konsens gibt es keine politischen Mehrheiten. Es ist unsere Pflicht und Verantwortung als mündige Bürgerinnen und Bürger, die Arbeit der neuen Landesregierung wachsam zu begleiten und notfalls Korrekturen einzufordern. Auch sollten wir nicht immer lauter nach Unterstützung, Beihilfen und Subventionen schreien, sondern - wie zu unserer Großväter- bzw. Großmütterzeiten - da und dort wieder etwas mehr Eigeninitiative an den Tag legen und unser Land – wo immer möglich - konstruktiv mitgestalten. 

Die oben genannten Aufgabenbereiche müssten Herausforderung genug sein, parteipolitische Partikularinteressen zum Wohle der Bevölkerung in Südtirol hintanzustellen. Für die Wählerschaft zählen, das sollten sich alle Mandatare*innen in ihre tägliche Agenda schreiben, konkrete Ergebnisse, nicht parteipolitisches Geplänkel und Streit. Sie ist es leid, leere Versprechen serviert zu bekommen und mit unrealistischen Forderungen immer wieder vertröstet zu werden. Was zählt, ist eine Priorisierung der oben genannten Problem- und Aufgabenfelder, sind zukunftsweisende Weichenstellungen zum Ausbau und zur Absicherung der Autonomie und vor allem politische Handlungsfähigkeit und die Bereitschaft zum zielführenden, demokratiepolitischen Dialog und Kompromiss.

Und nicht zuletzt braucht es im Lande, in Ergänzung und als Korrektiv zum gesellschaftspolitischen Scherbenhaufen auf den sozialen Plattformen, mehr denn je freie und unabhängige Medien, die nicht die politische Auseinandersetzung aus Eigeninteressen befeuern und so zur Polarisierung in der Gesellschaft beitragen. Die Professionalität von Journalisten*innen und Redakteure*innen sollte Verpflichtung zur Sachlichkeit, zur Objektivität und bestenfalls zur Verständigung sein.

Josefduregger.eu

 

Bardenlied

Dylan Thomas: Unterm Milchwald  (Zweisprachige Ausgabe in neuer Übersetzung)

Bei Unterm Milchwald handelt es sich um ein Hörspiel ähnlich einem Feuerameisenansturm auf einen Zikadenschwarm. Es erinnert in der Lautmalerei an Oswald von Wolkensteins lyrische Gesänge und z.T. an die Wortspiele der Dadaisten und vibriert vor Sprachwitz und einem feinsinnigen und hintergründigen Humor. Und dennoch kommt es so leicht wie ein Schmetterling daher. Dazwischen schwabert es herb, erotisch, zotig. Eine Chronik von Momentaufnahmen einer zirkusreifen und zugleich ganz alltäglichen Welt in dem Fischerdörfchen Llareggub in Wales. Mit jedem Satz erlebt die Leserin/der Leser ein Blitzlichtgewitter auf das pralle Leben in der kleinen Hafensiedlung mit ihren traditionellen Spelunken und ergreifenden Banalitäten. Es wächst immer wieder zu großem Kino an, mal in Reime gekleidet, mal von Kindern gelallt, mal hinter vorgehaltener Hand als Gerücht gestreut, mal als Predigt und Morgenlied vom Pastor gesungen. Alles wird in den Worten dieses Dichters zu Dichtung eben. Und immer wieder gibt er den Blick frei auf das Milchwäldchen, in dem gesellschaftliche Normen klammheimlich und ungeniert über Bord geworfen werden. Ein Ort der Freizügigkeit, der Ungebundenheit, der Laszivität und des fröhlichen Fremdgehens. Aber auch ein Ort der Glückseligkeit, der Freiheit, des Schwelgens und der Verschmelzung mit der Natur. Jede/r noch so einfache Dorfbewohner*in wird zur/m Protagonisten/in und erzählt auf seine/ihre ganz persönliche Weise Episoden ihres/seines Lebens.

Vor allem in den lyrischen, von Reimen getragenen Passagen, pulsiert das Leben in seiner ganzen Fülle und lässt den Leser/ die Leserin teilhaben an der Magie und Strahlkraft dieser Sprache. Jan Wagner gelingt mit der Übersetzung dieses Stückes, nach jener legendären von Erich Fried, ein Meisterwerk der Übersetzungskunst. Er beweist damit einmal mehr, dass er selbst ein großer Lyriker und Dichter ist.    

Jon Fosse: Das ist Alise

In einem alten Haus am Fjord begibt sich Signe auf traumwandlerische Spurensuche ihrer Familie, ihres Mannes Asle und der Großmutter Alise und all derer, die das Meer im Laufe der Zeit verschlungen hat. Vergangenheit und Gegenwart fließen atemlos ineinander und versetzen den Leser/die Leserin in eine Art Trance, aus der es kein Entrinnen gibt. Sie lebt von einem sprachlichen Parlando, einem Stammeln, das ohne Punkt vom Anfang bis zum Ende dahinfließt, so wie die Wellen im Fjord scheinbar ewig ans Ufer schlagen und die Geschichten der Verschollenen freigeben.

Die 2003 veröffentlichte Erzählung des Nobelpreisträgers Jon Fosse Das ist Alise liegt nun in einer Neuausgabe vor und bietet sich nahezu zum Verschlingen an. Aber Vorsicht: es führt leider kein Weg wirklich zueinander, auch in einer tragenden Beziehung nicht. Die Protagonisten zerbrechen an der rauen und kargen Landschaft des Nordens, die sich so nach und nach gewaltsam in ihr Leben frisst. Und dennoch ist gerade diese Landschaft so schön und voller Wunder. In dieser archaischen Welt verschmelzen die Gegensätze und enden in einer umarmenden Finsternis. Wie zwei Verirrte stranden Asle und Signe am Ende der Welt, im Unsagbaren. Zurück bleibt nur der Schmerz der Erinnerung. Weltliteratur.

Wo die Liebe hinfällt

Jaap Robben: Kontur eines Lebens

Dem niederländischen Schriftsteller Jaap Robben, Jahrgang 1984, ist mit diesem Roman ein großer Wurf gelungen. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die an der Zuneigung zu einem verheirateten Mann zerbricht, weil die von der katholischen Kirche bestimmten Moralvorstellungen der Nachkriegszeit im aufgeklärten Europa so eine Liebe mit Ächtung belegen. Alles beginnt durch einen Zufall. Die beiden Protagonisten Frieda und Otto begegnen sich zum ersten Mal auf dem Eis eines zugefrorenen Flusses. Was für ein treffliches Bild für den ganzen Roman!

Die junge Floristin Frieda und der verheiratete Mann Otto kommen sich nach und nach näher, Liebe keimt auf. Frieda wird schwanger. Eine für die damalige Zeit verhängnisvolle Entwicklung. Von der eigenen Familie verstoßen, der Gesellschaft ausgegrenzt, erfährt Frieda die grausame Kälte menschlicher Verachtung und nimmt sie ein Leben lang gefangen.

Im Alter von 81 Jahren, Frieda lebt nun wieder allein im Altersheim, will sie endlich verstehen, was mit ihrem Kind geschehen ist, das man ihr bei der Geburt rücksichtslos weggenommen hat. Sie kann ohne Gewissheit über die Frucht ihrer Liebe nicht mehr leben. Sie wird nur Frieden finden, wenn sie erfährt, welche Wege das Leben genommen hat.

Mit einfühlsamen Worten gelingt Robben die mitreißende Spurensuche einer traumatisierten und trauernden Mutter.

 

Literarischer Herbst

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche

Bis in die LONGLIST zum Deutschen Buchpreis 2023 schaffte es der neue Roman von Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche. Zu Recht. Man darf sich durchaus wundern, dass er den Preis schlussendlich nicht erhalten hat, denn sein Roman ist so überzeugend komponiert, dass man ihn nicht mehr aus den Händen geben will und in einem Zuge lesen muss.

Die Geschichte zeichnet einfühlsam das Schicksal einer Südtiroler Optanten-Familie nach, die nach schmerzlichen Auseinandersetzungen die Heimat verlässt und im Reich nicht nur keine neue findet, sondern das ganze Grauen des Naziterrors und des Weltkrieges am eigenen Leib erfahren wird. Vom Vater als glühender Nazi und Kriegsbefürworter ins Verderben geführt, verliert der Hauptprotagonist Ludi, aus dessen Perspektive die ganze Geschichte erzählt wird, zuerst seinen über alles geliebten behinderten Bruder Hanno in einer „Pflege-Anstalt“ bei Hall, aus der er nicht mehr zurückkommt. Mit der Todesnachricht verliert er auch die Hoffnung, dass diese versprochene neue Heimat sie mit offenen Armen aufnehmen und ihnen eine Lebensperspektive geben könnte. Der Krieg und das ganze damit verbundene Unheil bricht mit aller Härte über die Bevölkerung in ganz Europa herein und spült die restliche Familie nach Jahren der Entbehrung und des Leids wieder in die alte Heimat zurück, die sie nunmehr wie Fremde behandelt. Es gibt keine Heimkehr mehr nach dem großen Krieg. Alles liegt in Trümmern, zerstört durch Fanatismus, Hass und blindem Rassenwahn.

Malls Roman ist höchst aktuell und passt aus diesem Blickwinkel gesehen genau in unsere Zeit, sind wir ja in mehreren Ländern dieser Erde wieder einmal dabei, das Völkerrecht und die Menschenrechtscharta mit Füßen zu treten, alte Ressentiments zu bedienen, skrupellos imperialistische Machtgelüste auszuleben und unschuldige Völker mit Krieg und Terror zu überziehen. Und es nimmt kein Ende. Wo es keine gemeinsame Sprache mehr gibt, da sprechen leider die Waffen.    

Literarischer Herbst

Kerstin Ekman: Wolfslichter (PIPER)

 

Wer sich im fortgeschrittenen Alter mit dem Leben aussöhnen will und dabei eine Ermutigung braucht, der muss Wolfslichter von Kerstin Ekman lesen.

Wer die Tiefe einer alternden Liebe neu erfahren will, der muss ebenfalls Wolfslichter lesen.

Wer die Eingebundenheit des Menschen in die Natur verstehen will, der muss erst recht Wolfslichter lesen.

Drei lohnende Gründe, die den unwiderstehlichen Sog dieses großartigen Romans ausmachen. Und nicht genug damit: den Zauber einer Herbstlandschaft, die Magie eines Hochmoors, die Sprache des Wildes und die geheime Seele von Bäumen – all dies schildert die schwedische Autorin Ekman nebenbei auf unspektakuläre aber eindringliche Weise. In diesem Werk passt einfach alles zusammen und findet im Glück des Sehenden und Fühlenden seine Vollendung.

 

Timothy Garton Ash: Europa. Eine persönliche Geschichte

 

Der eloquente Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford, Timothy Garton Ash, Jahrgang 1955, ist ein passionierter Europäer und glühender Verfechter der grundlegenden Werte der EU, wie Demokratie, Wahrung der Menschenrechte, der Rede und Versammlungsfreiheit und der Achtung der Würde eines jeden Menschen. Als Berater zahlreicher Regierungen und als weltweit geachteter Journalist veröffentlicht er nun bei Hanser seine ganz persönlich gefärbte Geschichte Europas vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart herein. Sie liest sich zum Teil wie ein Roman, hat der Autor doch tatsächlich ein Leben lang Europa bereist und zahllose Regierungschefs und Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichem Leben persönlich kennen gelernt. Seine Ausführungen speisen sich also aus Notizen zu den Begegnungen und Gesprächen, die er bei seinen Reisen kurz kommentiert und aufgezeichnet hat. Wie in einem schillernden Kaleidoskop lenkt er den Blick der Leserin/des Lesers auf mehr als ein halbes Jahrhundert europäische Zeitgeschichte. Sie beginnt mit dem sogenannten D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie (sein Vater ist bei der ersten Angriffswelle dabei und erlebt nach 1945 als Besatzungssoldat das Entstehen eines demokratischen Deutschland) und führt den Leser/die Leserin Schritt für Schritt zu den zentralen Stationen und Wendepunkten der von Kriegen, Verwerfungen, Zusammenbrüchen ganzer politischer Systeme geprägten Geschichte Europas und zum langwierigen und holprigen Zusammenwachsen der kriegsgebeutelten Länder im Westen und Osten Europas in der EU, bis hin zum Brexit, den Ash als leidenschaftlicher Europäer mit Wort und Schrift vergeblich zu verhindern suchte. Globale Krisen wie der Zusammenbruch großer Banken und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise, eine noch nie gesehene Flüchtlings- und Migrationswelle, eine galoppierende Inflation, Corona, sowie der Vormarsch des Populismus und rechtsgerichteter Diktaturen erweisen sich für die Zukunft Europas als ernst zu nehmende Entwicklungen, denen es mit allen demokratischen Mitteln, mit Zivilcourage und mit Überzeugung entgegenzuwirken gilt. Ash nennt die Fakten beim Namen. So schreibt er z.B. über den ungarischen Ministerpräsidenten Orban:

Drei Jahrzehnte später war er der Politiker, der bewiesen hatte, dass ein Land die liberale Demokratie zerstören und gleichzeitig Vollmitglied der Europäischen Union bleiben kann.“

Und er zitiert eine Rede Orbans aus dem Jahr 2014, in der er Folgendes geäußert hat:

„Ich glaube nicht, dass unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union uns daran hindert, einen illiberalen neuen Staat auf nationaler Grundlage aufzubauen.“  

Diese Aussagen waren und sind ein Schlag ins Gesicht aller Europäer und aller überzeugten Demokraten. Wohin führt neuerdings also der Weg Europas, angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine und eines Erstarkens rechtsgerichteter Kräfte in vielen Länder der EU? Was lehrt uns die leidvolle Vergangenheit? Der Autor zieht auch diesbezüglich ganz klare Linien, indem er sagt:

 „Es ist eine Sache, ein Europa zu haben, in dem sich ein paar halbwegs unabhängige, reife Demokratien wie die Schweiz, Norwegen und jetzt auch Großbritannien um eine zentrale Gemeinschaft von eng integrierten Ländern gruppieren. Es ist eine ganz andere Sache, ein Europa zu haben, in dem alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach einem traumatischen Zerfall ihrer eigenen Wege gegangen sind. Nur der naivste historische Optimist dürfte damit rechnen, dass sie alle liberale Demokratien bleiben und weiterhin friedlich miteinander kooperieren.“  

Am Schluss seiner Geschichtserzählung wagt Ash eine Zukunftsprognose:

„Wenn sich die Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden infolge von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und schlechter Regierungsführung weiter vergrößert, werden keine Verteidigungsanlagen mehr ausreichen. Immer mehr Menschen werden über diese Zäune klettern, egal wie hoch sie sind, und sich aufs offene Meer wagen, egal wie rau es ist, und „Europa oder Tod“ rufen.“

Diese Diagnose kann uns für die Zukunft nicht wirklich beruhigen. Alle nach dem Krieg geborenen und im Frieden aufgewachsenen Generationen in Europa werden bitter lernen müssen, dass die Verteidigung der Demokratie jeden Tag aus neue beginnt und nie definitiv abgeschlossen sein wird. Sie werden lernen müssen, dass der soziale Friede ohne Recht und Gerechtigkeit in einer globalen Welt auf Dauer nicht zu gewährleisten ist. Sie werden lernen müssen, dass ein Leben in Freiheit seinen Preis hat. Genau das lehrt uns die Geschichte. Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, mit denen Europa heute zu kämpfen hat, plädiert Ash aber im Sinne seines ehemaligen Freundes Václav Havel dafür, die Hoffnung nie zu verlieren. „Hoffnung ist die Fähigkeit, sich für etwas einzusetzen, weil es gut ist, und nicht nur, weil es Aussicht auf Erfolg hat. Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

 

Gais, am 19.07.2023                                      jd

Erschütterungen der heutigen Zeit

Joachim Gauck/Helga Hirsch: Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht

 

Putins Überfall auf die Ukraine

Mit dem gewaltsamen Überfall Russlands auf die Ukraine ist die Friedensarchitektur der Nachkriegsära in Europa mit einem Schlag in Scherben zerbrochen.  Der Diktator aus der KGB-Schule hat sein wahres Gesicht gezeigt, und es ist mit Blut von unschuldigen Zivilisten besudelt. Und dennoch gibt es im Westen eine zwar noch verschwindende Minderheit, die dem Aggressor Putin wohlwollend gesinnt ist und der Ukraine das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung abspricht. Man denke nur an die AFD in Deutschland und an manche „Friedensaktivisten*innen“ der jüngsten Zeit. Dass sie mit dieser Haltung unsere Demokratie grundsätzlich in Frage stellen, ist offensichtlich. Aber der Ruf nach einem/r starken Mann/Frau ist scheinbar wieder einmal stärker als die Einsicht, dass die schwächste Demokratie noch um Welten besser ist als jede noch so gut funktionierende Diktatur. Das ist, im Kern, die Botschaft des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der als Bürgerrechtler und Gesellschaftskritiker die Diktatur der DDR und die Gängelung und Überwachung durch den „großen Bruder“ im Osten jahrzehntelang hautnah erlebt.

Erschütterungen

In seinem neuen Buch „Erschütterungen“ fragt er ganz unverhohlen, warum westliche Politiker vor den imperialen und kolonialen Machtansprüchen Putins den Kopf in den Sand gesteckt, warum sie auf dem Russland-Auge blind geworden waren, ja sogar augenscheinliche Völkerrechtsverletzungen (z.B. die Annexion der Krim) stillschweigend toleriert haben. Und nicht zuletzt, warum sie sich über die Energieversorgung (Nord Stream 1+2) sogar abhängig und damit erpressbar gemacht haben. Warum sie – wider besseres Wissen – mit dieser politischen Haltung die freiheitsliebenden Nachbarn im Osten (von Polen über das Baltikum bis in die Ukraine, Georgien u.a.m.) geschwächt und Putins Russland bedenkenlos hofiert haben.

Wandel durch Handel

Diese in der Ostpolitik grundgelegte deutsche Variante der Russlandstrategie hat viel zu lange im Glauben gelebt, dass Putin mit seinem Riesenreich und dem unermesslichen Reichtum an Bodenschätzen durch einen regen Handel schrittweise an die EU herangeführt oder sogar in das westliche Bündnis integriert werden könnte. Erst mit dem Überfall auf die Ukraine hat in den Köpfen westlicher Politiker*innen so etwas wie eine Zeitenwende Form angenommen. Erst dann hat man begriffen, dass man die Eigenständigkeit und Demokratie nur aus einer militärisch ernstzunehmenden Stärke heraus und in einem eng abgestimmten atlantischen Bündnis auf Dauer wird sichern können. Dieser Krieg vor der Haustür Europas zwingt den Westen, die Rüstungsausgaben aus Sicherheitsgründen deutlich zu erhöhen und den Grenzschutz im Osten neu aufzustellen. Russland ist mit Putin zum Sicherheitsrisiko für Europa geworden.

Putins Gefolgschaft in Europa

Wer im Westen für den grausamen Angriffskrieg Putins auf die Nachbarn in der Ukraine noch Worte der Verharmlosung, der Rechtfertigung und des Einverständnisses findet, der stellt sich aus dem Schonraum der Demokratie heraus auf die Seite eines menschen- und freiheitsverachtenden totalitären Regimes, welches grundlegende Menschenrechte mit Füßen tritt.  Straflager, Folter, Auslöschung – das ist das Waffenarsenal Putins für kritische Stimmen im eigenen Lande. Daher ist es schwer nachzuvollziehen, dass er da und dort auch bei uns noch immer auf wohlwollende Zustimmung stößt, ganz nach dem Motto: „Störe niemals einen angeschlagenen Bären!“ Die Macht des Stärkeren muss zur Kenntnis genommen werden. Sie verlangt eben, dass Opfer gebracht werden. Eine verwerfliche und inhumane Logik. Am Beispiel Polens erklärt Gauck: Freiheit ist so kostbar, dass es „lohnt“, notfalls das eigene Leben für sie zu opfern. Und er fragt: „Wie verteidigungsbereit ist unsere Gesellschaft also heute? Wie viel sind uns Freiheit und Demokratie wert?“

Das Buch öffnet dem/der Leser/in die Augen und stellt drängende und ganz existenzielle Fragen, auf die es sich lohnt, in kritischer aber friedlicher Auseinandersetzung als Individuen und als Zivilgesellschaft eine Antwort zu finden. Eine wehrhafte liberale Demokratie steht und fällt mit dem Verantwortungsbewusstsein für die gemeinsamen Grundwerte, für die Menschenrechte, für die res publica.

jd

Lebensabend voller Wunder

Wenn du alt bist“ von William Butler Yeats.

 

Bist du einst alt und grau und voller Schlaf
Und nickst am Feuer ein, dann nimm dies Buch,
Lies langsam, träume dich zurück und such,
Wie mich dein Aug mit seinem Schatten traf.

 

Wie viele liebten dich im heitren Licht
Und, weil du schön warst, sahn dich mit Begier,
Doch einer liebt' das Pilgerherz in dir,
Die Trauer in dem wechselnden Gesicht.

 

Und wenn du dich hinunterneigst zur Glut,
Dann flüstre traurig: wie die Liebe floh
Und auf den Bergen hinschritt irgendwo
Und ihr Gesicht verbarg in Sternenflut.

Offizielle Eröffnung und Segnung des neuen Museums „Alte Totenkapelle“ in Gais

Im Rahmen der Langen Nacht der Kirchen wurde am 2. Juni in Gais – nach einer feierlichen Messfeier, die von Jugendlichen gestaltet wurde, die sich auf die Firmung vorbereiten - das neue kleine Museum „Alte Totenkapelle“ festlich eröffnet und vom Dekan Franz Josef Campidell gesegnet. Zum Abschluss einer rund zehnjährigen Sanierungsarbeit erstrahlt die kleine Kapelle nun in neuem Glanz. Im Namen des gesamten Pfarrverwaltungsrates stellte Josef Duregger einem zahlreich erschienenen Publikum die Glanzpunkte dieses sakralen Juwels in Wort und Bild dar und brachte die Überzeugung zum Ausdruck, dass wir als Kinder einer Wohlstandsgesellschaft die Verpflichtung haben, das kulturelle Erbe unserer Vorfahren – sei es nun materieller oder immaterieller Art – zu erhalten und zu pflegen. Der Respekt vor den Leistungen unserer Ahnen sollte uns Leitstern sein im Bemühen um den Erhalt einer im Laufe vieler Jahrhunderte tradierten Kultur und Glaubensvorstellung. Die Totenkapelle war und ist auch in Zukunft ein Ort der Begegnung zischen den Lebenden und den Toten, ein Ort der Besinnung, des Gebetes und der Erinnerung. Gerade in einer alternden Gesellschaft sollten wir uns der eigenen Vergänglichkeit bewusst sein und diese Struktur als Brücke zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, zwischen Leben und Tod begreifen. Ganz im Sinne Thornton Wilders, der einmal geschrieben hat: 

„Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzig Bleibende, der einzige Sinn.“

Die äußerst interessierten Besucher*innen nahmen diese neue Struktur mit Begeisterung in Augenschein, begleitet von den musikalischen Klängen eines Klarinetten-Ensembles und „himmlischer“ Harfenmusik.

Herzstück des Museums sind die Fresken aus der Spätgotik. Sie leuchten in einer Plastizität und Strahlkraft, als ob sie erst gestern aufgefrischt worden wären. Ein einmaliges Jüngstes Gericht und daneben die Werke zum Erlösen der Armen Seelen, eine Art Katechismus für Gläubige, die damals noch nicht lesen konnten. Die alles übersteigende Frage lautet, auf einen einfachen Nenner gebracht: Wie muss der Mensch auf Erden leben, damit er in den Himmel kommt.

Weiters ist in einer Glasvitrine der Sonnenburger Ornat zu bestaunen. Es handelt sich um äußerst kostbare Messgewänder: ein Puviale, zwei Dalmatiken und eine Kasel. Diese wertvollen Textilien aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen aus einer französischen Manufaktur und gelangten vermutlich durch einen Gaisinger Pfarrer, der im Benediktinerinnen-Kloster Sonnenburg als Beichtvater diente, nach Gais.

Schließlich gibt es den frisch restaurierten Katakomben-Heiligen Konstantinus II, ein Ganzkörperskelett, in einem Reliquienschrein zu bewundern. Es handelt sich bei dem Heiligen um einen gläubigen Christen aus der Zeit zwischen dem 2. - 5. Jahrhundert nach Christus. Die beim Einsturz einer frühchristlichen Grabstätte in Rom zu Tage geförderten Skelette wurden von der Kirche zu Heiligen erklärt und zur Verehrung auf das Territorium verteilt. Im Inneren des Skelettes befanden sich zahlreiche gleichlautende Ablassbriefe, allesamt unterschrieben von Gläubigen aus Völs, datiert auf das Jahr 1849.

Der Pfarrverwaltungsrat ist bemüht, die Kapelle spätestens bis Mitte Juni in den Sommermonaten an drei fixen Wochentagen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und bei Bedarf auch Führungen anzubieten. Erste positive Reaktionen des Publikums lohnen den Verantwortlichen die Mühen und den ehrenamtlichen Einsatz und ermutigen zur Weiterarbeit.

Bischof Ivo Muser schickte auf unsere Einladung hin folgenden Segensgruß aus Rom:

Ich freue mich über die Initiative, über den Einsatz und über das gelungene Werk. Am 2. Juni bin ich allen verbunden, die das kleine Museum offiziell eröffnen. Viel Freude. Einen frohen, herzlichen Gruß aus Rom + Ivo

Unser Dank gilt folgenden Institutionen und Unterstützern:  

  • Der Gemeindeverwaltung
  • Der Fraktionsverwaltung
  • Dem Amt für Museen und museale Forschung
  • Dem zuständigen Amt für EU- Förderung (Leader-Büro)
  • Der Stiftung Südtiroler Sparkasse
  • Dem Museumsverein Taufers
  • Allen beteiligten Firmen und Handwerker
  • Allen Gönnern*innen und Förderern*innen aus der Bevölkerung von Gais

Für den Pfarrverwaltungsrat

Josef Duregger (Projektkoordinator)

Jón Kalman Stefánsson: Dein Fortsein ist Finsternis

„Was wichtig ist und dauerhaft Einfluss auf dich hat, tiefgehende Gefühle, leidvolle Erfahrungen, schockierende Erlebnisse, unbändiges Glück, Heimsuchungen oder Gewalt, die in die Gesellschaft einbrechen oder in deine Welt, das alles kann so tief eindringen, dass es sich in den Genen niederschlägt, wo es an andere Generationen weitergegeben wird – und so bereits die Ungeborenen prägt. Das ist ein Naturgesetz. Die Gene tragen Eindrücke, Erinnerungen, Erfahrungen und Erschütterungen von einem Leben ins andere.“ (…)

Bei seinem Gang durch den Friedhof stößt der Protagonist des Romans auf ein frisches Grab, auf dessen Stein der Satz eingraviert ist: „Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ Dieser Satz hat es in sich. Er ist aus der Nacht geboren und ins pralle Leben hereingetreten. Er fühlt sich an wie eine Umarmung, so erregend und tröstlich wie ein Kuss. Seite um Seite nimmt die Erinnerung Gestalt an und öffnet dem Leser/der Leserin den Blick in die raue und bezaubernde isländische Landschaft und in die Welt der Menschen, die am Rande der Finsternis ein Leben finden. Stefánsson ist mit diesem Werk Weltliteratur gelungen.  

Holodomor

Tanya Pyankova: Das Zeitalter der Roten Ameisen

Dieser 2022 im ecco – Verlag in deutscher Übersetzung erschienene Roman der ukrainischen Autorin ist nicht nur Weltliteratur und erinnert an Warlan Schalamows Lagererzählungen, sondern ist zugleich ein erschütterndes Denkmal für den Holodomor und wider das Vergessen. Es handelt sich um den Grauen erregenden Hungertod von rund 4,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, der von der Sowjetunion in den 1930er Jahren als politisches Machtinstrument gnadenlos umgesetzt wurde.

Im Nachwort zum Roman schreibt die Autorin:

„Ich fühle diesen Schmerz noch immer, denn das Thema Völkermord ist nicht mit 1933 ad acta gelegt worden. Der Genozid, den Russland am ukrainischen Volk verübt hat, dauert auch 1922 noch an. Jetzt, da ich schreibe, fallen russische Raketen auf die Köpf der Ukrainerinnen und Ukrainer, vergewaltigen russische Verbrecher ukrainische Frauen und Kinder, töten, zerstören, bestehlen sie mein Land, entwenden Getreide, setzen Felder in Brand. Die Geschichte dreht sich im Kreis, die Zeit vergeht, aber die Methoden bleiben.“(…)

Und an anderer Stelle:

„24. Juli 1922. Heute hat meine Oma Anna Geburtstag. Sie wird vierundachtzig Jahre. (…) Sie verlor ihre beiden Eltern, wuchs in einem Waisenhaus auf, überlebte den Weltkrieg, die Hungersnot 1946-1947, die Deportation und die sowjetische Gynäkologie. Und zu ihrem Geburtstag hat sie uns gebeten, wir sollten ihr doch … eine Waffe schenken. Weil in der Ukraine Krieg ist.“ (…)

Wer in der zivilisierten Welt im Westen bisher noch Zweifel hatte, wer wohl die Schuld trägt für diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins auf den Nachbarn Ukraine, der müsste spätestens nach der Lektüre dieses Romans geheilt sein von den Lügen, den Geschichtsfälschungen und der Propaganda des Diktators. Dieses literarische Psychogramm einer scheinbar vergangenen Zeit ist durch den russischen Überfall wieder brandaktuell und raubt einem den Schlaf. Ich musste die Lektüre immer wieder unterbrechen und mich zu Tränen gerührt abwenden. Wer die Würde des Menschen mit Füßen tritt, die eigene Bevölkerung knebelt und mundtot macht, der wird aus krankhaftem Machtinstinkt und imperialistischem Größenwahn früher oder später selbst zum Mörder. Diktatur hat scheinbar nie ausgedient und schreibt in jedem Jahrhundert wieder neue Grauen. Vielleicht kann dieses Horrorszenario alle freiheitsliebenden Menschen enger zusammenführen und ermächtigen, unsere Demokratie zu stärken, zu erneuern und sie zu befähigen, eine weltumspannende, solidarische, von Menschlichkeit geprägte Gesellschaft aufzubauen. Wir alle sind gefordert, egal auf welchem Landstrich dieser Erde wir leben.

jd

Annie Ernaux: Der junge Mann

In knapp vierzig Seiten beschreibt die Nobelpreisträgerin in einer Art Chronik ihr Liebesabenteuer mit einem ihrer um 30 Jahre jüngeren Schüler. Die Literaturkritikerin und Autorin Elke Heidenreich feiert dieses schmale Bändchen mit den Worten: "Was Männer können, können wir Frauen auch." Sie übersieht dabei, dass bereits zur Zeit der Romantik die Schriftstellerin Dorothea Veit eine Liaison mit dem viel jüngeren Friedrich Schlegel hatte.  In der aufgeklärten, emanzipierten Welt also nichts Neues. Bei dieser Versuchsanordnung der Nobelpreisträgerin handelt sich um einen bewusst inszenierten Grenzgang, der das zarteste aller Gefühle, nämlich die bedingungslose Liebe, zu einem literarischen Projekt nutzt. Mit anderen Worten: Eros im Dienste auktorialen Schreibens. Als Liebesgeschichte sollte man diesen Versuch also nicht lesen. Er dient ausschließlich der Selbstfindung und dem Prinzip der Gendergerechtigkeit. Wenn alte Männer sexuelle Beziehungen pflegen zu jungen Frauen, warum sollte dann diese gesellschaftlich nunmehr etablierte Gepflogenheit nicht einfach umgedreht werden?  Reife Frau liebt jungen Mann und bindet ihn an sich über ihren überlegenen Bildungsschatz, ihre gehobene sozialökonomische Stellung. Sie hält ihn in der Illusion des Glücks und entlässt ihn, sobald das Erlebte literarische Gestalt angenommen hat. Der junge Mann ist intellektuell leider etwas eingeschränkt, um zu begreifen, wie ihm geschieht. Sie hält ihn wie eine Marionette am Bändchen und spielt ein von Überlegenheit gespeistes Spiel. („Mir war bewusst, dass all das gegenüber dem jungen Mann, der die Dinge zum ersten Mal erlebte, eine Form der Grausamkeit war“ … oder … hatte ich in Rouen mit A. den Eindruck, Szenen und Gesten wieder aufzuführen, die bereits stattgefunden hatten, das Theaterstück meiner Jugend.“). Der junge Mann fügt sich als weiterer Mosaikstein ins Gesamtwerk Ernauxscher Grabungsarbeit von literarischer Kühnheit und Schonungslosigkeit. Ethische Kategorien spielen in dieser amour foux keine Rolle. Die Autorin ist getrieben von der Sucht nach Versprachlichung auch der intimsten Gefühle, der ausschließlich alles untergeordnet werden muss. Zurück bleibt ein fahler Geschmack auf der Zunge.

jd  

Lebensweisheit

Sinnbilder

Beim Lesen des Buches „Sinnbilder“ von Reinhold Messner und seiner Frau Diane nahm in mir kraft der Aussagen aus berufenem Munde der erleuchtende Gedanke Gestalt an, dass das Leben eben nicht nur aus Rekorden besteht und dass die Jagd danach blind macht für die Wahrheit und Einzigartigkeit menschlichen Seins. Und diese Erkenntnis ist wie ein Geschenk an die Menschheit. Gerade Messner hat ja in seinem Leben regelrecht Jagd gemacht nach Rekorden, ganz nach dem Motto „No Limit“. Mit dem Run auf die letzten unberührten Rückzugsorte der Natur hat er ja dazu beigetragen, einen Hype auszulösen und dabei einen nicht ganz klein zu redenden ökologischen Fußabdruck hinterlassen, der von der Fridays for Future - Generation zu Recht kritisch bewertet wird. Auf die höchsten Berge, durch Eis- und Sandwüsten bis in den letzten Winkel dieses Planeten. Selbst wenn er dabei auf große logistische und technische Unterstützung verzichtet hat, verstand er es, diese Extremtouren medial derart professionell zu vermarkten, dass die ganze zivilisierte Welt davon Kenntnis nahm und Nachahmer*innen auf den Plan rief. Und so wage ich zu behaupten, dass es heute keinen einzigen Ort auf unserem Planeten mehr gibt, der nicht von Abenteurern*innen überrannt ist. Das ist heute leider kein Nullsummen-Spiel mehr. Die Erde ist drauf und dran, durch die menschliche Hybris zu kollabieren. Klimaerwärmung, Artensterben, Naturkatastrophen, Krieg – das sind die Folgen unserer ungebremsten Wachstumsideologie, unserer Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit, unserer Sucht, noch im entlegensten Winkel der Erde nach dem ultimativen Kick, dem vermeintlichen Glück zu suchen. Dabei spielt die digitale Vernetzung zunehmend eine zentrale Rolle, denn sie ermöglicht es uns, alle Wunder dieses Planeten gleichzeitig zu erleben und zu „konsumieren“. Unsere Vorfahren und Elterngenerationen haben dieses Glück noch vor der Haustür, in der Dorfgemeinschaft, im engeren Umfeld gefunden. Sie haben uns vorgelebt, was Bescheidenheit und Zufriedenheit, was inneren Reichtum ausmacht. Doch der materielle Wohlstand hat uns leider blind gemacht für die Zerbrechlichkeit und Begrenztheit unseres Planeten, für die Ästhetik des Verträglichen, des Einfachen, des Weniger ist Mehr! Und so verspürt man beim Lesen dieses Buches eine gewisse Genugtuung, wenn unser weltweit gefeierter Extrembergsteiger in seinem Alter nun einen Weg nimmt, der das Kleine, das Außergewöhnliche, das unverbraucht Natürliche, das überaus Menschliche und den Verzicht in den Blick nimmt. Bleibt zu hoffen, dass er in Zukunft auf umweltschädigende Flugreisen auch noch zu verzichten lernt. Denn verzichten kann nur jemand, der das Glück genießt, auf der Haben-Seite der Welt leben zu dürfen. Ein Großteil der Menschheit hat leider nichts, auf das er verzichten könnte. Und genau darum sind wir Kinder des Wohlstands alle gefordert unseren Beitrag zur Rettung des blauen Planeten zu leisten. So entstehen Bilder und Wirklichkeiten, die dem Leben einen tieferen Sinn geben.

JD

 

 

 

Bildung im Austausch für Konsum

Erst hatte ich Zweifel, mich verhört zu haben, aber dann wurde mir klar, dass die Handelskammern von BZ und TN tatsächlich fordern, die Schulferien zu verlängern, damit die Kinder, Jugendlichen und deren Eltern mehr Zeit fürs Skifahren und für die Pistengaudi haben. Also mit anderen Worten gesagt: mehr konsumieren und den Umsatz der Lift- und Betreibergesellschaften, ja der gesamten Freizeitindustrie steigern. Damit wird unmissverständlich klar, was führende Wirtschaftsvertreter in unserem Lande von der Bildung halten. Ein paar Wochen weniger Unterricht spielt in ihren Augen scheinbar keine Rolle. Ganz zu schweigen von pädagogischen Überlegungen zum Lernen generell, die ihnen sowieso fremd sein dürften. Ob unsere Jugend angemessen lesen und schreiben lernt, scheint zweitrangig zu sein. Dabei ging gerade erst ein Aufschrei durch Südtirol, dass in allen Bereichen qualifizierte Fachkräfte fehlen, und nun scheint das um des lieben Geldes willen alles schon vergessen. Wer aber Fachkräfte fordert, muss auch bedingunslos Ja sagen zur Bildung!

Mit einem solchen haarsträubenden Ansinnen würden die gesellschaftspolitischen Prioritäten neu definiert, ganz nach dem Motto: Zuerst das Vergnügen, dann die Bildung. Das können wohl nur Vorläufer der Auswüchse einer übersättigten Spaß- und Konsumgesellschaft sein. Wohlstand verleitet eben zu Dummheit. Wie sonst ist zu erklären, dass man bereit ist, das Freizeitvergnügen gegen die Bildung auszuspielen. Ich bin, gelinde gesagt, sprachlos!

Zum Glück hat diesmal LR Achammer entsprechend klar reagiert und dem Ansinnen eine dezidierte Abfuhr erteilt. Einen großen Aufschrei im Lande erwarte ich mir dennoch nicht, denn Südtirol hat mittlerweile gelernt, sich mit Mittelmäßigkeit abzufinden. Im Grunde ist es ein weiterer Versuch, die öffentlichen Bildungseinrichtungen zu diskreditieren und als belanglos und ineffektiv abzustempeln. Bildung im Fadenkreuz der Wirtschaft!? Tut mir leid: wir haben, wie ich schon im letzten Bildungsdokument geschrieben habe, den gesellschaftspolitischen Kompass verloren.

Gais, im Advent 22

 

SVP – quo vadis?

Anderthalb Jahre lässt Landeshauptmann Kompatscher unser Land und seine Wählerschaft nun im Ungewissen, ob er bei den kommenden Wahlen noch einmal kandidieren wird. Das ist – bei aller Wertschätzung – unverantwortlich und in keiner Weise zu rechtfertigen. Südtirol verdient sich gerade in Krisenzeiten eine verlässliche, transparente und aufrechte politische Führung.

Zu den Fakten

Durch Südtirol ging ein Aufschrei, als in der Folge der letzten Landtagswahl durch die Veröffentlichung der Chat-Nachrichten führender Parteifunktionäre der SVP die parteiinternen Intrigen an die Öffentlichkeit drangen und ein eklatantes Demokratiedefizit der Mehrheitspartei aufdeckten. Führende Mandatare diskreditierten den ranghöchsten Vertreter ihrer Partei im Amt des Landeshauptmannes als Versager und sprachen ihm jegliche Kompetenz für diese führende politische Rolle ab. Ja sie entzogen ihm hinter seinem Rücken das Vertrauen und bastelten insgeheim an einem „Komplott“. Ein Spiel mit dem Feuer, das den Wahlsieger Kompatscher zu Recht verärgerte und in seiner Integrität traf. Er forderte daher von seiner Partei Aufklärung, feuerte einen seiner engsten Mitarbeiter in der Landesregierung, entband andere in enger Abstimmung mit dem Parteiobmann Achammer einiger ihrer Ämter und setzte einen Termin, bis zu welchem er sich Klarheit über den weiteren gemeinsamen Weg machen wollte. So weit so gut, auch wenn er für diese Entscheidung etwas lange brauchte. Doch nun fragen sich die Wähler*innen – nachdem diese Entscheidung ein weiteres Mal bis Weihnachten vertagt wurde - ob es in dieser langen Zeit immer noch nicht gelungen ist, sich Klarheit zu verschaffen. Ist diese Partei überhaupt reformwillig? Oder liegt das Problem auch in der Strategie Kompatschers, persönlich wohlgesinnte Vertrauensleute in den Parteigremien zu etablieren, die seine politischen Positionen vertreten und ihm in Zukunft Mehrheiten verschaffen? Die Änderungen des Parteistatuts bei der letzten Landesversammlung lassen diesen Schluss zu. Haben ein fairer politischer Wettbewerb und eine gesunde Streitkultur in der SVP ausgedient?  Den Aussagen der SVP-Fraktionssprecherin im Südtiroler Landtag zufolge hat es in der Sammelpartei im Laufe der letzten Jahre viele persönliche Verletzungen, Anfeindungen sowie kleinere und größere Skandale gegeben. Zudem ist uns allen noch die Aussage des Landeshauptmannes in Erinnerung, dass die Mehrheitspartei in den letzten Jahrzehnten zu einem Lobbyistenclub verkommen ist? In der Tat: Frau und Herr Südtiroler*in erleben nun schon seit Jahren, dass die großen Verbände im Lande die Gesetze federführend mitschreiben und über weite Strecken die Politik bestimmen. Man denke nur an die Raumordnung oder an die Auseinandersetzung um die GIS-Erhöhung für Privatzimmervermieter und für die Urlaub auf dem Bauernhof Betriebe.  Wo führt, so fragt sich immer öfter der/die von seiner/ihrer Hände Arbeit lebende Durchschnittssüdtiroler/in, der Weg der Mehrheitspartei in Zukunft hin? Wer kümmert sich wirklich um die Sorgen und Nöte der Menschen, ohne dabei parteipolitisches Kalkül und Machtstreben in den Vordergrund zu stellen? Welche/r Mandatar/in hat unser Land Südtirol und nicht die eigenen Interessen im Blick? Auf diese Fragen braucht die Wählerschaft dringend plausible und ehrliche Antworten. Das Verwirrspiel und das Polittheater müssen in unserem Lande endlich ein Ende nehmen. Wir sind gut beraten, uns wieder der grundlegenden demokratischen Werte zu besinnen und mit Anstand und Verantwortungsbewusstsein unser Land im Auftrag der kommenden Generationen in die Zukunft zu führen.

Gais, am 01.12.22       jd

Eine Gesellschaft im freien Fall

Wie wenig es braucht, um unser demokratisches Gesellschaftsgefüge in Brüche gehen zu lassen, zeigen die seit Coronazeiten in ganz Europa aufgeflammten Protestaktionen der Wutbürger, einer vorwiegend von rechtsnational gesinnten Extremisten und Rassisten gesteuerten Wählerschaft. Und es verstört vor allem die Tatsache, dass sich von dieser Welle so viele Unzufriedene und vielfach zu Recht kritische Bürger anstecken und mitreißen lassen. In Krisenzeiten genügt scheinbar ein Funke, um das Pulverfass 70 Jahre nach dem Großen Krieg wieder scharf und den Weg in die Diktatur als politische Alternative hoffähig zu machen. Wie sonst ist es zu erklären, dass auch in vielen scheinbar gefestigten westlichen Demokratien neuerdings nationalkonservative, faschistische und offen rassistische Kräfte an die Regierung gelangen. Nun erhebt man wieder ganz unverhohlen die Hand zum Mussolini-Gruß, marschiert mit Reichsflaggen und Nazisymbolen, knebelt die Medien und die Justiz und fällt durch Gewaltbereitschaft und Intoleranz auf. Wären wir in Europa so kapillar bewaffnet wie in den USA, dann würden wir uns aus Unfähigkeit oder mangelnder Bereitschaft zum Dialog aller Voraussicht nach längst selbst dezimieren. Ein enthemmter Individualismus, Rücksichtslosigkeit und Verantwortungsverweigerung bilden die Begleitmusik dafür. Der Blick auf das Allgemeinwohl ist uns abhandengekommen, Solidarität zum Fremdwort geworden.

Russlands blutiger Angriffskrieg auf die Ukraine, die Klimakatastrophe, die Wirtschaftskrise samt galoppierender Inflation – alles Brandbeschleuniger in Gesellschaften, die den politischen Kompass verloren haben, die keine gemeinsame Vision mehr eint und die auf Kosten der nachkommenden Generationen auf Pump leben und Schulden anhäufen. Ja die drauf und dran sind, diesen Planeten, der uns alle am Leben hält, irreversibel zu schädigen. Angesichts einer solchen Entwicklung ist es nachvollziehbar, wenn Jugendliche und aufgeschlossene Mitbürger nicht mehr bereit sind, tatenlos zuzusehen, wie wir auf den Abgrund zusteuern. In dieser Protesthaltung die richtige Wahl der Mittel zu treffen, das ist eben eine gesellschaftlich höchst relevante Frage. Was ist im Lichte der Rechtsordnung erlaubt? Und wo ist es vertretbar, angesichts einer augenscheinlich bevorstehenden Katastrophe, diese enge Rechtsordnung neu zu definieren und da und dort im Sinne einer Notfallmaßnahme zu überschreiten? Wieviel Protest muss eine demokratische Gesellschaftsordnung aushalten und erlauben, um glaubwürdig zu bleiben? Welche Formen des Protestes sind zulässig? Wo zieht die Demokratie die rote Linie, die zu überschreiten das System selbst in Frage stellt? Schwierige Fragen, auf die es keine einheitlichen und zwingenden Antworten gibt. Auch das ist Demokratie: der Zweifel als Richtschnur des politischen Handelns. Und zugleich das Ringen um die Wahrheit und um einen Grundkonsens in lebenswichtigen Fragen. Für mich steht weiterhin unumstößlich fest: die Würde des Menschen und die Freiheit des Denkens sind gerade auch im Hinblick auf das Allgemeinwohl unantastbar und nur in der Demokratie glaubwürdig zu leben!

Gais - Allerheiligen 2022

Nachhaltig in die Katastrophe

Ich kann das Wort „Nachhaltigkeit“ schon gar nicht mehr hören, denn alles, was in unserem Lande in den verschiedensten Sektoren durch die Öffentliche Hand oder durch Privatunternehmen gemacht wird, bezeichnen die verantwortlichen Akteure inzwischen als nachhaltig. Auch angesichts der aus dem Ruder geratenen Klimakatastrophe, der Erderwärmung, der Versauerung und Verschmutzung der Meere, des Gletscherschwunds und des Wassernotstands, des ausufernden Waldsterbens, wirtschaften und leben wir anscheinend nachhaltig und hängen uns dieses Feigenblatt auch an krasse und nicht wiedergutzumachende Umweltsünden. Dass es so nicht weitergehen kann, hat auch die Landesregierung erkannt und zum Zwecke im März 2022 sogenannte „Nachhaltigkeitstage (Sustainability Days)“ organisiert, welche Zielsetzungen und Handlungsfelder definieren, in denen vorrangig konkrete Transformations-Maßnahmen gesetzt werden müssen. Leider ist zu befürchten, dass diese mit großem Werbeeffekt angekündigten Bemühungen nur toter Buchstabe bleiben und beachtliche Summen an Steuergeldern einfach in den Sand gesetzt haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass das erste konkrete Projekt nun ein Skiliftbau auf einer sonnigen Hanglage in Kastelruth ist, der zusätzlich die Errichtung eines Speicherbeckens und einer künstlichen Beschneiungsanlage erforderlich macht. Aber auch dafür stellt die Landesregierung gewaltige Summen an Steuergeldern bereit. Nun liegt es in den Händen eines „grünen“ Bürgermeisterkandidaten, diesen Unsinn als Obmann der Liftgesellschaft offiziell zu befürworten und umzusetzen. Tut mir leid – ich kann an diesem klimaschädigenden Projekt nicht eine Spur an Nachhaltigkeit finden. War also die sündteure Tagung umsonst? „Wir tragen Verantwortung für Mensch und Natur“ und „Südtirol nachhaltig zu entwickeln ist unser Anspruch!“ formuliert die LR ihre Zielsetzungen. Mit solchen Projekten werden wir den Kampf gegen die Klimakrise unweigerlich verspielen. Und es stehen ja noch, wie wir fast wöchentlich den Medien entnehmen, einige Megaprojekte auf der Tagesordnung, die noch viel gravierendere Folgen für die Umwelt haben werden (z.B. Erweiterung Skigebiet Gitschberg etc.). So, geschätzter Herr Landeshauptmann, wirtschaften wir munter und fröhlich nachhaltig in die Katastrophe.

Allerseelen 2022

 

im gedenken an meine mutter maria (12.09.)

 

dein erster blick

ein lächeln

 

dein erstes wort

ein ja zum leben

auch in schweren zeiten

 

die freiheit war gebot dir

in einer zeit

als stilles dienen angesagt

 

du gingest mutig aufrecht

wo andre sich schon bückten

 

erst als das alter dir

die kühnheit der gedanken nahm

beklagtest du des geistes

schmerzlich enge grenzen

 

im tode schweigst du nun…

 

vergebens wart ich

auf ein letztes wort

aus deinem munde

ein letztes lächeln

in der bangen stunde

 

und trotzdem spür ich

wir sind uns nah verwandt

und gehen weiter

hand in hand.

 

 

„Im Abschied ist die Geburt der Erinnerung.“

 Heimito von Doderer

Die Nacht steht schweigend über all den Trümmern. Gedanken zum Angriffskrieg in der Ukraine

I

Die Geschwindigkeit des Projektils – sie ist

bei großer Kälte stets vom Zielobjekt bestimmt,

vom Drang der Kugel, die sich herzwärts frißt

und im Gewebe Wärme sucht; und weitersingt.

Die Steine lagern wie ein zweites Heer.

Dem Lehmgrund prägen sich die Schatten ein.

Der Himmel blättert ab wie Kalk. Als wär’s

´ne Motte taucht ein Flugzeug auf, ganz klein,

und gleich darauf sprungfederleicht, schnellt Rauch

empor. Das Blut – wie kochende Milch dem Trichter

entquellend – taut den Grund nicht auf, es rauscht

und strömt umsonst; wird Schorf; kann nicht versickern.

 

Mir scheint, als hätte der russische Nobelpreisträger Brodsky Putins dunkle Seele bereits vor rund einem halben Jahrhundert vorausgesehen. Dichter sind eben Hellseher, ihr Blick auf die Wirklichkeit trügt selten und rührt gerade daher zu Tränen. In einem Land, in dem die Straflager und Gulags seit der Zarenzeit und vor allem seit Stalin Hochbetrieb haben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Fiktion die krude Wirklichkeit scharfzeichnet und schonungslos auf den Punkt bringt. Auch Brodsky hat, wie zahllose seiner Kolleginnen und Kollegen vor ihm und nach ihm, am eigenen Leib schmerzlich zu spüren bekommen, was seelische Folter, Straflager und das Böse mit dem Wunsch nach einem freien und selbstbestimmten Leben und vor allem mit der Wahrheit anrichten. Die Zahl der Opfer, die nie mehr wiederkehrten aus dem Verderben, ist mit menschlichen Begriffen nicht zu ermessen, sie entzieht sich der Logik des Menschseins. Und allein darüber zu sprechen bedingt in dieser Diktatur (und auch in allen anderen!) immer noch Ausgrenzung und Auslöschung. Haben denn die Kultur, die Dichtung und Musik, haben sie wirklich kein Fundament für die Freiheit gelegt? Sind sie spurlos an den Menschen in diesem Riesenreich vorübergegangen? Ist Sprache auf Dauer per Gesetz zu sanktionieren und zu züchtigen, mit Gewalt umzudeuten? Wenn man bedenkt, welch begnadete Schriftsteller, Dichter und Komponisten dieses Land im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat, möchte man glatt verzweifeln, den Mut verlieren und vor allem die Hoffnung, dass das zarte Pflänzchen Menschlichkeit früher oder später obsiegt und erblühen kann. Dass Freiheit und Selbstbestimmung zum Menschsein unabdingbar dazugehören! Dass der Mensch auf Dauer nicht in Unfreiheit leben kann, dass er daran zerbrechen muss.

IV

Was hat das Summen einer Drohne,

eines Flugzeugs zu bedeuten?

Ob zu leben sich noch lohne?

Fällt doch eben dies den meisten Leuten

schwerer, als ein Kartenhaus zu bauen.

Nichts hat Bestand: ein Hauch – zerfallen

sind Familien, gebrochen das Vertrauen.

Die Nacht steht schweigend über all den

Trümmern. Metall schwitzt Öl. Vor Schrecken

(um nicht zu ersaufen in den leeren

Stiefeln) sucht der Mond sich zu verstecken

in Allahs Turban: in den Wolkensphären.

 

Derzeit scheint es so, als ob eine Clique von Oligarchen und Geheimdienstschergen die Freiheit im Lande definitiv knebeln und ein Regime der Angst und des Schreckens installieren könnten. Und sie begnügen sich nicht damit, das eigene Land gleichzuschalten und zu ruinieren, sondern setzen zudem alles daran, die westlichen Demokratien zu destabilisieren, Zwietracht und politischen Fundamentalismus und Extremismus zu schüren. Dabei agieren sie ganz unverhohlen und skrupellos. Die Freiheit des Denkens ist für diese Machtbesessenen ein Grauen, es darf kein anderes Narrativ geben als ihre von Gewalt, Terror und Korruption geprägten Großmachtideologien. Was das für unser aller Zukunft bedeutet, ist leicht abzusehen: wir gehen möglicherweise erneut einem dunklen Jahrhundert entgegen, dessen Projektile bereits im Lauf sind und sich nach Brodsky herzwärts fressen. Vielleicht kann uns Literatur eine Wegbegleiterin und Trösterin sein in diesen düsteren Zeiten, mehr auch nicht!

(PS: Die beiden Gedichte sind entnommen aus: Josef Brodsky: Brief in die Oase. Verse von der Winterkampagne des Jahres 1980)

 

Weitere Literaturtipps 2022 – Schwerpunkt Ukraine

  • Ilya Kaminsky: Republik der Taubheit
  • Ocean Vyong: Die Zeit ist eine Mutter
  • Wassili Grossman: Stalingrad
  • Sherij Zhaidan: Internat
  • Aleš Šteger: Neverend
  • Katerina Poladjan: Zukunftsmusik
  • Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide
  • Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht
  • Sasha Filipenko: Die Jagd
  • Paul Mason: Faschismus

 

jd

 

 

 

Aber bitte noch schnell ein Geschäft mit Wladimir. Von der Doppelbödigkeit und Blauäugigkeit des Westens.

 

Bereits 2008 schrieb Thomas Friedmann in seinem Manifest Was zu tun ist. Eine Agenda für das 21. Jahrhundert:

„In ölreichen Petrostaaten tendieren Ölpreis und Entwicklung der Freiheit dazu, sich in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen. Das heißt, je höher die durchschnittlichen Rohölpreise steigen, desto stärker erodieren Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie und faire Wahlen, Versammlungsfreiheit, die Transparenz staatlichen Handelns, die richterliche Unabhängigkeit, Rechtsstaatlichkeit sowie das Recht auf Bildung unabhängiger politischer Parteien und nichtstaatlicher Vereinigungen. All diese negativen Trends werden verstärkt durch die Tatsache, dass die Führung solcher Petrostaaten sich mit steigendem Ölpreis immer weniger darum kümmert, was die Welt über sie denkt oder sagt. Sie verfügen über größere Geldmittel, um die Sicherheitskräfte im Inland zu verstärken, Gegner zu bestechen, Wählerstimmen oder öffentliche Zustimmung zu kaufen und internationale Normen zu missachten.“ (…)

Und an anderer Stelle:

„Unsere Abhängigkeit vom Öl beschleunigt die globale Erwärmung, stärkt Petrodiktatoren, verschmutzt saubere Luft, macht arme Menschen noch ärmer, schwächt demokratische Staaten und bereichert radikale Terroristen.“ (…)

Es mutet an, als wären diese Zeilen hellseherisch als Warnung vor Putin geschrieben worden. Und der Westen hat sie geflissentlich überhört, hat leider geschlafen oder noch schnell ein Geschäft gemacht mit dem Diktator. Anstatt die eigene Unabhängigkeit zu sichern, haben wir in zahlreichen Sektoren die Hardware und gleich auch die Software und sämtliches Know how an die Despoten verkauft, ganze Produktionsketten ausgelagert und verschachert und uns so freiwillig und bei vollem Bewusstsein in die Abhängigkeit begeben, weil uns die kapitalistische Gewinnmaximierungsdoktrin blind gemacht hat für das menschliche Maß. Es ist eben viel lohnender, den Kopf in den Sand zu stecken und von der Hand in den Mund zu leben, als mittel- bis längerfristige gesellschaftspolitische Konzepte und Strategien zu entwickeln. Der westliche Politiker denkt zunehmend in den Kategorien der Amtsperioden und setzt natürlich alles daran, möglichst viele seiner Wähler zufrieden zu stellen um wiedergewählt zu werden. Das geht nur, wenn die großen überregionalen und internationalen Probleme ausgeklammert und auf das politische Tagesgeschäft reduziert werden. Längerfristig ist das im Lichte der heutigen geopolitischen Entwicklung leider Selbstmord.

In regelmäßigen Abständen wurden wir von führenden Wissenschaftlern, Philosophen und Denkern schon seit den frühen siebziger Jahren vor diesem Kniefall in die Abhängigkeit gewarnt. Der Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ von Dennis Meadows (erschienen 1972) und „Tödlicher Fortschritt“ von Eugen Drewermann (erschienen 1981) hätten uns die Augen öffnen können. Die Wahrheit hat uns leider geblendet und zum Wegschauen veranlasst. Und nun stehen wir vor einem Scherbenhaufen, der uns überfordert und die kommenden Generationen vor fast unüberwindbare Herausforderungen stellt. Und so fragen wir uns nun allen Ernstes mit Friedman: Was ist zu tun?

  1. Der Rückzug in einen hoffnungslosen Fatalismus und eine beklemmende Lähmung wäre auf alle Fälle die falsche Haltung und käme einer Flucht bzw. einem Versagen gleich. Die einzige brauchbare Alternative besteht darin, nach vorne zu schauen, aus den Fehlern der Vergangenheit endlich zu lernen, den Problemen, so wie sie sich präsentieren, nicht aus dem Wege zu gehen und konkrete Lösungen anzupacken. Und, was zentral ist, den Wachstumsgedanken ein für alle Mal zu begraben und im Gegenzug danach zu trachten, den derzeitigen Wohlstand zu halten und dauerhaft zu sichern. Das ist Aufgabe genug für dieses Jahrhundert!
  2. Statt neue Märkte für Öl und Gas zu erschließen, wäre es vielleicht an der Zeit, dass wir alle bei uns selbst mit dem Rückbau und der Transformation beginnen, z.B. die Heizung in den Wohnungen auf ein verträgliches Maß drosseln, die individuelle Mobilität eindämmen, die regionale Nahversorgung fördern und so die Unabhängigkeit Schritt für Schritt zurückfahren. Wieder Bescheidenheit lernen und sparsamer leben. Und das wäre noch kein allzu schmerzlicher Verzicht, wie mir scheint.
  3. Vielleicht zwingt uns der Krieg in der Ukraine nun effektiv dazu, über eine Neuorientierung und einen Paradigmenwechsel nicht nur nachzudenken, sondern konkret die Weichen zu stellen für einen Lebenswandel, der den begrenzten Ressourcen der Welt Rechnung trägt. Der konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem Ziel der Selbstversorgung ist auf alle Fälle ein Gebot der Stunde!

Während in der Ukraine unschuldige Zivilisten, Alte, Kranke, Kinder, freie Bürger*innen wie du und ich, abgeschlachtet werden, sollten wir uns einig sein, auf ein letztes Geschäft mit dem Diktator zu verzichten und unser Augenmerk auf die zahllosen Flüchtlinge und Kriegsopfer richten. Sie verdienen unsere Solidarität und Hilfe, denn sie kämpfen auch für unsere Freiheit und Demokratie!

jd

 

Gais, am 10.03.2022

 

Putin – Stalins blutrünstiger Krieger

 

Am 24. Februar 2022 im Morgengrauen (man fühlt sich unweigerlich an den Beginn des Zweiten Weltkrieges erinnert) hat Putin den Befehl zum schonungslosen Angriff auf die Ukraine gegeben. Russland überfällt mit Waffengewalt ein friedliches, freies und souveränes Nachbarland, verbietet eine freie Berichterstattung und versetzt die eigene Bevölkerung in Angst und Schrecken. Das Wort Krieg wird offiziell aus dem Sprachvokabular gestrichen und mit Spezialoperation ersetzt. Damit bestätigt sich wieder einmal die bittere Erkenntnis, dass im Krieg das erste Opfer eben die Wahrheit ist. Die ganze Inszenierung im Vorfeld also nur schlechtes Theater, um den Westen zu verunsichern und in die Irre zu führen. Der Despot und Aggressor, der Musterschüler Stalinscher Vernichtungslogik zeigt damit nun sein wahres Gesicht. Seitdem herrscht wieder Krieg in Europa. Der deutsche Bundeskanzler Scholz sprach im Bundestag von einer „Zeitenwende“. Wer hätte gedacht, dass nach rund 75 Jahren Frieden erneut die Waffen sprechen und Menschen sinnlos sterben müssen. Aber Putin nimmt keine Rücksicht auf die Friedensarchitektur Europas und der Welt. Er lässt Landsleute, die ihre Meinung friedlich äußern, in Straflager stecken und verschwinden, knebelt die Opposition und die gesamte Bevölkerung mit einer gleichgeschalteten und gefügigen Justiz und hängt zaristischen und imperialistischen Großmachtideologien nach.

Seine Oligarchen-Entourage ist so korrupt wie er selbst und begnügt sich nicht damit, den Staat zu plündern, sondern bekennt sich mehr oder weniger offen dazu, die westlichen Demokratien mit viel Geld zu unterwandern, zu destabilisieren und in eine Krise zu stürzen. Man bedenke nur die zahlreichen vom Kreml in Auftrag gegebenen Cyber-Attacken auf westliche Einrichtungen und auf lebenswichtige Infrastrukturen. Denn mit schwachen und uneinigen Nachbarn lässt sich leichter das eigene dreckige Spiel verfolgen. Zahllosen westlichen Politikern hat dieser Überfall hoffentlich die Augen geöffnet und jede Illusion genommen. Wir haben es in diesem Fall nicht mit einem zu Unrecht Ausgegrenzten zu tun (so stellen es vor allem die zahlreichen Putin-Versteher dar), sondern mit einem Kriegsverbrecher, der sich nicht scheut, die Welt in Brand zu setzen und mit atomaren Horrorszenarien zu drohen. All jene westlichen Politiker, die Putin sogar in die Hände gespielt und offen seine Interessen unterstützt haben (z.B. der deutsche Altbundeskanzler Schröder, oder die österreichischen Altbundeskanzler Kern und Schüssel und die ehemalige Außenministerin Kneissl, die bei ihrer Hochzeit sogar mit dem russischen Bären getanzt hat – um nur einige Exponenten zu nennen), indem sie in den Verwaltungsräten der staatlichen russischen Konzerne seinen weltweiten „schmutzigen Geschäften“ dienten, sind jetzt gefordert, sich öffentlich und in aller Form zu distanzieren und ihre Mitarbeit als grundlegenden Fehler einzugestehen. Und auch alle Rechtspopulisten in den westlichen Demokratien (Salvini, Orban, Le Pen u.v.a.) müssen nun Farbe bekennen und sich eingestehen, dass sie die Gesinnung eines skrupellosen Kriegsverbrechers teil(t)en. Dass im einundzwanzigsten Jahrhundert die geopolitischen Grenzen mit Waffengewalt verändert werden, ist nicht hinzunehmen. Anscheinend können sie aber nur durch ein wirksames und effektives Szenario der Abschreckung auf Dauer gesichert werden. Frieden ist, wie die Demokratie auch, nicht gratis zu haben. Sie müssen im transatlantischen Bündnis tagtäglich gelebt und gesichert werden. Das bedingt eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur, ein von Grund auf erneuertes Bündnissystem, den überzeugten Zusammenhalt im Zeichen des Humanismus und der Friedenskultur, sowie nicht zuletzt ein unumstößliches Bekenntnis zu einem demokratischen Leben in Frieden und Freiheit. Erst wenn wir uns in der westlichen Welt darüber einig sind (und die Zeichen stehen mittlerweile zum Glück gut), werden wir dem asiatischen Feuerring der Diktaturen (Russland, China, Nordkorea, Myanmar, Iran, Syrien) standhalten können. Erst wenn Verbrecher wie Putin u.a. vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt und für die Kriegsopfer und Kriegsschäden zur Rechenschaft gezogen werden, kann die demokratische Welt aufatmen. Bis dahin gilt es, solidarisch zu sein mit den Verfolgten, den zahllosen unschuldigen Opfern in der Zivilbevölkerung, unseren mutigen Freiheitskämpfern in der Ukraine. Denn Putin will nicht nur die Ukraine als freies souveränes Land auslöschen, er zielt ins Herz der Freiheit und der Demokratie. Und genau deshalb ist der Westen gefordert wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gilt, Putin mit aller Konsequenz und Härte wirtschaftlich und politisch zu isolieren, die Verteidigungsfähigkeit des westlichen Militärbündnisses konsequent und durch Aufwendung der erforderlichen finanziellen Mittel wieder sicher zu stellen und unsere Demokratien nach innen zu stärken. Die Freiheit des Denkens und Lebens sollte es uns wert sein, auch wenn wir schmerzhafte Opfer bringen müssen. Das System Putin darf nicht das letzte Wort haben.

 

jd 

 

Demokratie in Gefahr

Baustelle Demokratie

Was wir derzeit im Zusammenhang mit Corona in den westlichen Demokratien erleben, muss allen friedlich gesinnten und freiheitsliebenden Menschen zu denken geben. Ist das, was sich da abzeichnet, der Beginn einer ernsthaften Krise der Demokratie? Da stellt eine Minderheit das gesamte gesellschaftliche System in Frage und nutzt die durch den Rechtsstaat geschützten Grundrechte gegen das System selbst für Agitation, ja trägt den Protest, als Spaziergang getarnt, mit Gewalt auf die Straßen. Wer immer sich dieser Minderheit anschließt und mit gezielten Störmaßnahmen jegliche Schutzbestimmung und gesellschaftliche Konvention zu umgehen versucht, dabei sich selbst und anderen Mitmenschen Schaden zufügt oder sie zumindest gesundheitlich gefährdet, ist nicht schlüssig zu klären und von Mal zu Mal neu zu bestimmen. Da gibt es die rechtsradikalen und gewaltbereiten Extremisten und Rassisten, die radikalsten Feinde einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Dann gibt es die sogenannten Querdenker, Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker, die jede Form der Einschränkung der Grundrechte zum Schutze der Bürger vor einer Infizierung durch das Corona-Virus (Einschränkung der persönlichen Kontakte u.a.m) mit aller Vehemenz ablehnen, indem sie Lügen und Anschuldigungen streuen, die kein realistisches Fundament haben. Dann gibt es unter ihnen die Chaoten und Anarchisten, die jede Gesellschaftsordnung ablehnen, weiters die Esoteriker und Freidenker nach Steiner, die von alternativen Gesellschaftsordnungen träumen und nahezu sektenartig denken und handeln. Dann gibt es die Unzufriedenen, die aus einer allgemeinen Protesthaltung heraus mitmarschieren. Dann gibt es eine verschwindend kleine Gruppe von Menschen, die die Wirksamkeit der Schulmedizin und mithin auch der Impfungen anzweifeln. Und schließlich sind da noch die Schaulustigen und unbedarften Mitläufer, die einfach dabei sein wollen um zu erleben, wie weit der Protest getrieben werden kann, bis der demokratische Rechtsstaat handelt. Dieses explosive Gemisch wird aus einem okkulten Hintergrund heraus über die sozialen Medien gesteuert und organisiert. Sie bilden die Plattform für dieses gefährliche Kesseltreiben, welches den Rechtsstaat immer wieder an seine Grenzen und - so die Vorstellung zumindest von Teilen dieser Protestbewegung - vielleicht sogar zum Kollaps führt. In seinem Buch Februar 33 beschreibt Uwe Wittstock, wie die Weimarer Republik durch den aufkommenden Nationalsozialismus nach und nach in die Knie gezwungen und schließlich mit Gewalt in eine Diktatur umgeformt wurde. Dabei fallen immer wieder Parallelen zur heutigen Zeit ins Auge.

  • Eine skrupellose, radikale Minderheit versetzt die Gesellschaft in Angst und Schrecken.
  • Feindbilder dienen als Vorwand, um die Gewalt zu rechtfertigen.
  • Die Angriffe auf die Minderheiten der Juden, Migranten und der politisch Andersdenkenden werden mit aller Härte und Konsequenz durchgeführt.
  • Die gemäßigte politische Mitte zieht sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.
  • Dazu kommt eine Wirtschaftskrise, die einen nicht zu unterschätzenden Teil der Bürger in die Armut treibt.

Nun, diesbezüglich sind wir momentan noch weit entfernt, und dennoch gibt es erste Anzeichen eines wirtschaftlichen Niedergangs, mit einer Inflation um die 5%, mit globalen Lieferengpässen und einer Verteuerung der Rohstoffe um ein Vielfaches und nicht zuletzt mit einer scheinbar unüberwindbaren und stetig wachsenden Kluft zwischen den wenigen Superreichen und dem Großteil der Armen. Und als ob das alles nicht schon genug wäre, haben wir uns seit Jahren mit einer alle Vorstellungen übersteigenden globalen Migration auseinanderzusetzen. Hinzu kommt die Klimakrise, die sich ebenfalls rapide und irreversibel verschärft, mit all den Folgen, die damit zusammenhängen. Also nicht unbedingt die beste Zeit für ein gesellschaftspolitisches Experiment oder gar für eine gewagte politische Infragestellung der Demokratie. Und dennoch gibt es eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Mitbürgerinnen und Mitbürger, die dieses gefährliche Spiel neuerdings Tag für Tag an die Spitze treibt und jeden noch so geringen Vorwand nutzt, um unsere Zivilgesellschaft als ein Modell zu deklarieren, welches in ihren Augen ausgedient hat.

Zugegeben: Demokratie funktioniert oft zu bürokratisch, zu umständlich und zeitaufwändig im Meinungsfindungsprozess und zu instabil, weil sich jederzeit neue Mehrheiten bilden können. Aber genau das ist ja die Garantie für ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Protest ist in einer Demokratie immer dann berechtigt und erwünscht, ja sogar notwendig, wenn er sachlich und gewaltlos artikuliert wird. Dann kann er das Salz in der Suppe sein, welches das Gesellschaftssystem stärkt und weiterentwickelt. Und genau deswegen ist unser demokratisches Gesellschaftssystem trotz seiner Unvollkommenheit alternativlos und muss von allen Menschen guten Willens im Sinne der Meinungsvielfalt und der Meinungsfreiheit verteidigt und geschützt werden.

Klar ist aber auch, dass sich gerade unser Rechtsstaat um die berechtigten Forderungen und Anliegen aller seiner Bürger kümmern, dass er die diffusen Ängste vieler Menschen ernst nehmen und einen sozialen Ausgleich finden muss. Es kann nicht sein, dass wir uns - nach dem hoffentlich baldigen Abklingen der Pandemie - über unbequeme Wahrheiten einfach hinwegsetzen und zur Tagesordnung übergehen, nur weil uns diese Auseinandersetzung fordert und vielleicht da und dort zu Abstrichen und zu Kompromissen zwingt, ja z.T. sogar ratlos macht. Die derzeitige Krise bedarf vor allem einer politischen Aufarbeitung im Sinne eines breit angelegten offenen Dialogs aller Gesellschaftsschichten. Niemand verfügt derzeit über ein schlüssiges Konzept zur Befriedung der Gesellschaft, daher muss um Lösungsansätze gerungen werden, muss das vorübergehende Scheitern mit einkalkuliert und das Gespräch immer wieder von neuem gesucht werden. Das ist mühsam und kostet Kraft und Geduld, ist aber der einzige Weg in eine demokratische Zukunft, die für alle Mitmenschen lebenswert ist.    

Gais, am 4.2.2022

Plädoyer für eine lebenswerte Welt

Aufbruch in die Zukunft – ein Weckruf!

Nun hat uns in Europa dieser Sommer zwar in Bezug auf die Pandemie zum zweiten Male eine kleine Verschnaufpause beschert, dafür aber in vielen Teilen der Welt verbrannte Erde, Not und Elend hinterlassen. Die Klimaerwärmung erreicht mittlerweile Ausmaße, die zwar durch den Menschen verursacht, von ihm selbst aber auch mit allen möglichen technischen Hilfsmitteln nicht mehr kontrollierbar sind. Das führt dazu, dass ganze Landstriche durch Hitze, Feuer, Dürre und Flut in Ödnis verwandelt werden und dass, wenn nicht umgehend radikal und konsequent gegengesteuert wird, menschliche Tragödien und Katastrophen auf unserem Planeten vorprogrammiert sind. Obwohl wir über die Zusammenhänge menschlichen Handelns und Wirtschaftens und deren verheerende Auswirkungen auf die Umwelt bis ins Detail Bescheid wissen, stecken wir, von Blindheit geschlagen, in alten Denkmustern fest, sorgen uns in erster Linie weiterhin um Wachstumsraten und genießen ohne Maß die Bequemlichkeiten des eigenen Wohlstands. Stephen Hawking, der hellsichtige Astrophysiker, hat in einem seiner Vorträge schon vor Jahrzehnten vorausgesagt, dass sich die Erde in ein paar hundert Jahren in einen Feuerball verwandeln könnte. Und er begründete seine These mit der stetig wachsenden Erdbevölkerung, mit dem damit zusammenhängenden exponentiell ansteigenden Energieverbrauch und der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung. Einleuchtende Argumente konsequent zu Ende gedacht!

Und wie reagiert die Politik auf diese Herausforderung? In unseligen und langatmigen Diskussionen und Konferenzen ist die internationale Staatengemeinschaft nach wie vor versucht, Zeit zu gewinnen, die wir nicht mehr haben. D.h. im Klartext, den Kopf in den Sand zu stecken und die nicht mehr zu übersehnenden Katastrophen als regionale Phänomene einfach kleinzureden. Und vor allem sind wir mittlerweile geschult im Vergessen und Ausblenden, ganz nach dem Motto: Was mich nicht persönlich betrifft, macht mich nicht heiß!

Mehr denn je werden neuerdings in ganz Europa und auf allen Kontinenten wieder neue Grenzen und Mauern errichtet, um sich vor Zuwanderung und Flüchtlingsströmen abzuschotten. Diese Ausgrenzung ist von der Überzeugung geprägt, dass jeder Nationalstaat selbst für sich und womöglich gegen alle anderen es richten und die Zukunft für die eigene Bevölkerung sichern kann. Doch die Klimakrise wirkt sich global aus und kennt keine vom Menschen errichtete Grenzen. Anstatt zu helfen, verschließen wir die Augen vor der himmelschreienden Not, dem Elend und der Verzweiflung zahlloser Mitmenschen und nehmen billigend in Kauf, dass jede Sekunde Kinder und Erwachsene auf der Flucht sterben oder in Flüchtlingslagern ohne Perspektive dahinvegetieren und zum Spielball erpresserischer Regime werden.

Die UNO-Menschenrechtscharta und mit ihr internationale Vereinbarungen und Verträge verkommen zunehmend zu leeren Worthülsen, zu Feigenblättern einer kränkelnden liberalen Gesellschaft. Gerade die Pandemie hat diese extremistische Gesinnung noch verschärft und ist dabei, unsere demokratische Gesellschaftsordnung mittelfristig in eine tiefe Krise zu stürzen, wenn es uns nicht gelingt, einen Minimalkonsens für einen neuen Generationenvertrag, eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu entwickeln. Es braucht die Bereitschaft aller Gesellschaftsschichten, an diesem Zukunftsprojekt mitzuarbeiten, ja es wesentlich mitbestimmen zu wollen. Es braucht die vielen Schritte im Kleinen, im eigenen Lebensumfeld, aber vor allem Schritte im großen Zusammenhang. Dabei kann es keine heiligen Kühe geben, alle bisherigen Denkmodelle gehören auf den Prüfstand und müssen im Lichte einer nachhaltigen Zukunftssicherung neu gewichtet werden.

Es braucht ein neues Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft, die schlafenden Kinder unserer Gesellschaft wachzurütteln und unmissverständlich klar zu machen, dass wir es nur gemeinsam in einer Art Aufbruch hin zu wirksamer Nachhaltigkeit und Begrenzung, zur Bescheidung und zum menschlichen Maß vielleicht noch richten können. Bereits in den siebziger Jahren hieß die Devise: small is beautiful! Doch die Industrienationen – gesteuert vom Neoliberalismus und einem zügellosen Markt - haben diese in einer Art Wachstumsrausch mit einem „schneller, höher, weiter“ beantwortet. Und sie hatten vordergründig dabei auch noch Erfolg, wenn man die verheerende und irreversible Ausbeutung der verfügbaren Ressourcen, das weltweite Artensterben sowie die Hunger- und Migrationskatastrophen nicht in die Bilanz einbezieht. In Zukunft (beim nächsten internationalen Klimagipfel im Glasgow wird die Stunde der Wahrheit definitiv schlagen!) dürfen nicht mehr Einzelinteressen, sondern immer das Allgemeinwohl, das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde im Fokus unseres Handelns stehen. Eine Utopie?

Mag sein, aber immerhin ein Hoffnungsschimmer, für den sich unser aller Einsatz lohnen würde. Wenn wir wollen, dass zukünftige Generationen, also unsere Kinder und Enkelkinder, noch einen lebenswerten Planeten vorfinden, dann ist es jetzt an der Zeit konsequent zu handeln. Die Veränderung beginnt also jetzt! Zuerst in unseren Köpfen!

„Früher dachte ich, dass die größten Umweltprobleme der Verlust der Artenvielfalt, der Kollaps der Ökosysteme und der Klimawandel wären. Ich dachte, 30 Jahre gute Wissenschaft könnte dieses Problem angehen. Ich habe mich geirrt. Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit, und um mit ihnen fertig zu werden, brauchen wir einen kulturellen und spirituellen Wandel. Und wir Wissenschaftler wissen nicht, wie man das macht.“ Gus Speth (*1942), Professor für Umweltpolitik und nachhaltige Entwicklung an der Yale Universität in New Haven, Connecticut

Empfehlenswerte Literatur:

  • Eckhart von Hirschhausen: Mensch Erde! Wir könnten es so schön haben
  • Frank Schätzing: Was, wenn wenn wir einfach die Welt retten?
  • Tom Burgis: Kleptopia

 

JD

Interview PZ 13 - vom 1.7.21

Er hat viele Jahr lang unterrichtet, war Direktor, Schulführungskraft und Schulinspektor. Zahlreiche richtungsweisende Reformen und Entwicklungen tragen seine Handschrift: Josef Duregger, 72 aus Gais. Man kann ihn durchaus auch als Dichter und Denker bezeichnen. Denn seit seiner Pensionierung vor rund 10 Jahren hat sich Duregger der Literatur und Kultur verschrieben. Er schreibt Bücher und leistet ehrenamtliche Kulturarbeit, besonders für seinen Heimatort Gais. Vor allem ist Duregger aber auch ein kritischer und mahnender Zeitgeist. Im Interview spricht er über Coronaleugner, die sozialen Medien, Kultur, Religion.

 

Herr Duregger, in verschiedenen Leserbriefen gehen Sie mit Coronaleugnern, Testverweigerern und Virusverharmlosern schwer ins Gericht. Vergiften diese Personen das friedliche Zusammenleben oder sind es einfach nur Spinner?

 

Ich bin grundsätzlich kein Leserbriefschreiber, aber gemeinsam mit einigen Schulkollegen habe ich mich in letzter Zeit einige Male zum Thema Corona geäußert und meine/unsere Meinung offen zum Ausdruck gebracht, weil man oft den Eindruck hat, dass der öffentliche Diskurs von Menschen bestimmt wird, die sich möglichst laut und extrem äußern. Diese Corona-Pandemie hat uns seit einem guten Jahr im Würgegriff und stellt uns wirtschaftlich, sozial, kulturell und menschlich vor eine harte Probe. Jeder Leserbriefschreiber hat als Mensch meinen vollen Respekt, aber die öffentliche Meinung darf man nicht nur Randgruppen überlassen.  Ich erlaube mir, immer dort Widerspruch anzumelden, wo ich die Meinungsvielfalt, Toleranz und den Respekt vor der menschlichen Würde in Gefahr sehe. Dabei möchte ich klarstellen, dass ich die sozialen Medien im Unterschied zu machen Experten nicht nur als Segen für unser demokratisches Zusammenleben in Frieden und Freiheit sehe, sondern sehr wohl auch als Gefahr. Wer hinter die Kulissen geschaut hat (wie z.B. der Autor Christopher Wyle in seinem Buch Mindf*ck nachzulesen), der hat anhand von Fakten aufgezeigt, wie es gerade über die sozialen Medien möglich sein kann, Wahlen in gefestigten Demokratien zu gefährden oder gar zu manipulieren. Das sagt alles über die Möglichkeiten der sogenannten sozialen Medien. Die Zivilgesellschaft in unseren westlichen Demokratien ist gut beraten, gewisse Auswüchse als solche zu erkennen und alles zu unternehmen, dass diesem Treiben Grenzen gesetzt werden. Das friedliche Zusammenleben in Gruppen, Dörfern, Gemeinden, Ländern ist getragen vom Dialog, von Meinungsvielfalt, von einer lebendigen Streitkultur, und vom Bemühen, einen Grundkonsens in lebenswichtigen Belangen zu erreichen. Immer dort, wo das unmöglich gemacht wird, ist unsere Demokratie in Gefahr.  Ab und zu habe ich den Eindruck, dass wir als Wohlstandskinder den Kompass verloren haben und die christlich-sozialen Grundwerte auf unserem Weg nach und nach aufgegeben haben. Werte wie Toleranz, Hilfsbereitschaft, Respekt und die Menschlichkeit - was sind sie uns noch wert? Wir entwickeln uns zu rücksichtslosen Individualisten.  

 

Wie soll man Ihrer Meinung nach solchen Personen begegnen?

 

Nicht indem man sie verteufelt, ihre Sprache und ihre Verschwörungstheorien einfach ins Gegenteil verkehrt und sie an den Pranger stellt, sondern indem man ganz klar, sachlich und nüchtern aufzeigt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit Hasstiraden und persönlichen Angriffen, mit Verleumdungen, Anschuldigungen und Bedrohungen nicht einverstanden ist und Widerspruch anmeldet. Niemand von uns hat die alleinige Wahrheit gepachtet, aber wer, wenn nicht die Wissenschaft und der kollektive Sachverstand sollten uns aus dieser Krise führen, die die Gesundheit der Menschheit auf diesem Planeten gefährdet?  Und genau so halte ich es und orientiere mich in meinen Äußerungen an den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung und einer transparenten und verlässlichen Information durch unabhängige Medien.

 

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

 

Die sozialen Medien haben in den letzten Jahrzehnten Kommunikationsplattformen geschaffen und Möglichkeiten eröffnet, die einer Revolution gleichkommen. Die Entwicklung ging so rasant, dass selbst Experten oft gar nicht mehr alles durchblicken. Es sind Grauzonen (darknet) entstanden, die auch ein Tummelplatz sind für Cyber-Kriminalität und Pädophilie. Aber selbst vermeintlich harmlosere Spielformen können in Summe Schaden anrichten, wie wir anlässlich von Wahlen in demokratischen Ländern gesehen haben. Auch fehlt mir in diesen Medien vielfach der Anstand, der Respekt vor der Meinung der Andersdenkenden und ein gewisser Grad an Bildung. Und ich meine hier in erster Linie Herzensbildung. 

 

Wie leicht oder schwer sind Menschen beeinflussbar?

 

Wer Verschwörungstheorien anhängt, hat meist festgefahrene Denkstrukturen und wittert hinter wissenschaftlichen Informationen einen Angriff auf die individuelle Freiheit. Alles, was nicht in einer Linie mit der Verschwörungstheorie steht, ist aus ihrer Sicht vermutlich verwerflich und muss bekämpft werden. Diese Menschen finden sich häufig in mehr oder weniger gleichgesinnten Gruppen, die sich gegenseitig aufstacheln. Nicht selten sind Vertreter vom rechten politischen Spektrum dabei, die dann eine sachliche politische Diskussion verteufeln und damit die Demokratie gefährden.

 

Meinungsvielfalt, politische Auseinandersetzungen und Diskussionen sind wichtig. Ist die Demokratie dennoch in Gefahr?

 

Ich bin ein vehementer Befürworter der Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit. Ich bezeichne Kritik als das Salz des parteipolitischen Geschäfts. Nur in Diktaturen ist lediglich eine Meinung erlaubt, und das wollen wir nach gerade mal 70 Jahren Naziterror doch hoffentlich alle nie wieder. Ich bin aber auch ein Verfechter jener Kritik, die sich an Lösungen für die Probleme unserer Zeit abarbeitet und bestenfalls eine Vision für die Zukunft hat, die weiterhin Wohlstand, Frieden und Freiheit garantiert.

 

Sind diese Entwicklungen durch Corona verstärkt oder gar verursacht worden oder hat Corona nur das zu Tage befördert, was schon lange im Untergrund schlummert?

 

Beides. Corona hat uns alle kalt erwischt. Niemand, nicht einmal die wissenschaftlichen Eliten haben so ein Szenario konkret angedacht. Um so unvorbereiteter traf es uns dann. Selbst als in China, wo die Pandemie ihren Anfang nahm, schon Millionenstädte komplett abgeschirmt wurden, haben wir noch ahnungslos zugewartet. Europa befand sich wegen des Brexit und anderer schwerwiegender Probleme noch immer in Schockstarre. Dieser Umstand hat sicher dazu beigetragen, die Bevölkerung zu verunsichern und den Glauben an die Wirksamkeit der Wissenschaft und der Politik zu unterminieren. Und natürlich ist dann der Weg zu den bekannten Verschwörungstheorien a la Trump nicht mehr weit. Corona hat dann im Verlaufe der Zeit viele Probleme zusätzlich verschärft. Denken wir nur an den anhaltenden Lockdown, der das ganze soziale Leben zum Stillstand und die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen an den Rand des Verkraftbaren gebracht hat.

 

Was kommt da noch auf uns zu?

 

Erstmal kommt ein riesiger Schuldenberg auf uns zu, der auch zukünftige Generationen noch belasten und vor große Herausforderungen stellen wird. Dazu kommt, dass wir uns weltweit in einer Transformationsphase befinden und neue Antworten finden müssen auf die drohende Klimakatastrophe und auf eine nachhaltigere Nutzung der Ressourcen. Das alles kostet Geld. Und nicht zuletzt sehen wir in mehreren Ländern (auch in Europa) wieder ein Erstarken rechter Parteien und ein Wiedererwachen nationalistischen Denkens. Vielerorts wird der Ruf nach einem starken Mann wieder lauter und unverhohlener geäußert. Wer hätte je gedacht, dass sich Amerika mit Trump als Präsidenten in ein politisches Abenteuer mit unbekanntem Ausgang wagt? Das geopolitische Gleichgewicht geriet in Schieflage, die Krim annektiert, der Donbass besetzt und in einen Krieg verwickelt, die Freiheit Hongkongs geknebelt, ganz zu schweigen von der prekären und bedrohlichen Lage in Afrika und Südamerika.

 

Sind sie ein religiöser Mensch? Welche Bedeutung hat heute Religion noch?

 

Ich bekenne ganz offen: ich bin kein Vorzeige-Christ und mein Glaube ist oft von starken Zweifeln geprägt. Aber ich lebe eine gewisse Spiritualität, die die Frage nach Gott oder einem höheren Wesen mit einschließt. Ich habe mich in der Vergangenheit relativ intensiv mit Befreiungstheologie und mit den kritischen Denkansätzen Küngs oder Drewermanns auseinandergesetzt. Mit zunehmendem Alter tauchen selbstverständlich Fragen auf wie: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und genau diese Frage trifft uns als religiöse Wesen im Zentrum unserer Existenz und unseres Denkens. Auf Ortsebene arbeite ich, wie zum Glück viele andere auch, im Pfarrgemeinderat mit und leite in dessen Auftrag einen Arbeitskreis, der bemüht ist, Akzente zu setzen im Bereich der religiösen Erziehung. Der katholischen Kirche wünsche ich mehr Reformfreudigkeit generell und insbesondere eine Öffnung in Richtung Weihe der Frauen zu Priesterinnen. Die Protestanten machen es uns ja erfolgreich vor.

 

Reden wir kurz über Kultur. Marcus Garvey sagte einmal: Ein Volk ohne Kenntnis seiner Geschichte, seines Ursprungs und seiner Kultur ist wie ein Baum ohne Wurzeln. Können Sie dem zustimmen?

 

Er trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist schon eigenartig, dass in unserer Gesellschaft Kultur oft als Luxus angesehen wird, auf den man im Zweifelsfall verzichten kann. Dabei ist Kultur das Fundament einer freien Zivilgesellschaft. Sie setzt Kräfte frei, die das Schöne und Gute im Menschen zum Ausdruck bringen. Einmal abgesehen vom wirtschaftlichen Aspekt des Kulturbetriebs, der nicht zu unterschätzen ist, bereichert Kultur unser Leben und macht uns zu glücklicheren Menschen. Wenn‘s dann aber konkret wird, dann scheiden sich auch in den Gemeindestuben oft die Geister und die Kultur wird auf das Abstellgleis gestellt. Seit Jahrzehnten bemühe ich mich, unseren zuständigen Kulturlandesräten vorzuschlagen, das immaterielle Erbe Südtirols (sprich: das kulturelle Erbe) systematisch zu erfassen, zu dokumentieren und die vielen prägenden Dinge nach und nach in das UNESCO-Weltkulturerbe eintragen zu lassen. Was frühere Generationen an Kultur geschaffen haben, sollte uns Auftrag genug sein, es zu erhalten und in unser historisches Gedächtnis zu integrieren.  Corona hat wieder einmal unmissverständlich gezeigt, dass auch die Politik die Kultur als unwichtigste Nebensache der Welt betrachtet, ein Phänomen, das rund um den Globus nach den gleichen Mustern abläuft. Und dennoch möchte ich, dieser allgemeinen Stimmung zum Trotz festhalten: eine Gesellschaft, welche die Kultur vernachlässigt, endet früher oder später im Totalitarismus, in dem Dummheit und Gewalt den Ton angeben.

 

Herr Duregger, die Welt wird immer digitaler. Auf alle Fragen bekommt man im Internet eine Antwort. Wie wichtig ist Bildung dennoch?

 

Die Bedeutung der Bildung ist unumstritten. Wir haben in unserem Bildungsmanifest (Vgl. dazu: josefduregger.eu) versucht, diese Frage vertieft zu betrachten. Bildung ist der Garant für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Gerade die digitale Revolution zwingt uns, mehr denn je in die Bildung zu investieren und ihr im gesellschaftlichen Diskurs eine zentrale Rolle zuzuerkennen. Wir stehen nämlich immer mehr im globalen Wettbewerb und müssen beweisen, dass wir den Herausforderungen der Zeit gewachsen sind. Unsere Lehrer und Erzieher verdienen mehr Anerkennung, der Berufsstand insgesamt muss eine Aufwertung erfahren, wenn wir wollen, dass auch in Zukunft alle Kinder dieselben Bildungschancen erhalten sollen. Ich habe ein Leben lang auf mehreren Ebenen einer gediegenen Bildung unserer Jugend das Wort gesprochen und mich tatkräftig dafür eingesetzt, dass Schulabgänger im Berufsleben erfolgreich sein können, unabhängig davon, welchen Beruf sie ergreifen.   

 

In welcher Welt wachsen Enkelkinder heute auf? Und was geben Sie ihnen mit auf den Weg?

 

Da ich mittlerweile selbst mehrfacher Opa geworden bin, habe ich das Glück, das Aufwachsen der Kinder aus einem neuen Blickwinkel begleiten zu können. Es ist eine wunderbare Aufgabe und Herausforderung zugleich, denn die heutige Zeit bietet so viele Ablenkungen und so viel Firlefanz, dass die Gefahr groß ist, an der Oberfläche zu verhaften und Belangloses zu fördern. Zugleich sehe ich auch die Gefahren, die das moderne Leben unseren Enkelkindern über die sozialen Medien zuträgt. Es bedarf in Zukunft also mehr denn je einer intensiven persönlichen Begleitung durch empathische Erzieher und Lehrer, durch Eltern und Großeltern, welche den Kindern und Jugendlichen in dieser schnelllebigen Zeit Halt und Orientierung geben und ihnen vermitteln, dass Kultur (z.B. Bücher oder Musik) nach wie vor Berge versetzen kann.   

 

An was arbeiten Sie momentan und welche Projekte haben Sie geplant?

 

Momentan arbeite ich konkret an der Herausgabe eines Kinderbuches in Zusammenarbeit mit einer Klasse der Mittelschule Ursulinen, welche die Illustration desselben übernehmen wird. Es ist für mich unglaublich bereichernd und beglückend, mit Kindern und Jugendlichen arbeiten zu können. Ihre Spontaneität und Kreativität ist ein Jungbrunnen für jede alternde Seele. Mehr möchte ich über meine anstehenden Vorhaben noch nicht verraten. Nur so viel: es gibt keinen Stillstand in der Pension!  

 

Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!

 

 

 

 

 

Unser Standpunkt zu Corona

Demokratie lebt von Meinungsvielfalt, von politischer Auseinandersetzung in öffentlichen Debatten, von einer zivilisierten Streitkultur und letztendlich von Mehrheitsentscheidungen. Jede*r überzeugte Demokrat*in wird dieses Postulat vollinhaltlich und ohne Einschränkung unterschreiben. Was wir derzeit aber im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie von einer kleinen Gruppe von fanatisierten Impfgegnern*innen, Coronaleugnern*innen, Testverweigerern*innen und Virusverharmlosern*innen zu hören bekommen, spottet jeder demokratischen Spielregel und ist über weite Strecken Ausdruck einer Verrohung und Enthemmung von Teilen unserer Gesellschaft vorwiegend auf den Plattformen der sozialen Medien. Ja es nimmt teilweise schon anarchische Züge an. Diese Demagogen*innen und Chaoten*innen scheuen nicht davor zurück, Andersdenkende als Todfeinde zu erklären, sie mit Hasstiraden zu überschütten und in erniedrigender Weise zu beleidigen, ja Lokalpolitikern*innen und politischen Verantwortungsträgern*innen sogar Gewalt anzudrohen. Wer solche Verhaltensweisen an den Tag legt, verstößt nicht nur gegen geltendes Recht und stellt sich damit bewusst außerhalb der demokratischen Gesellschaftsordnung, sondern hat zudem jeden Anstand verloren. Da sich diese Mitbürger*innen sachlichen Argumenten komplett verschließen und dazu noch haarsträubende Lügen in die Welt setzen, sollte die Mehrheit der Zivilbevölkerung mehr denn je solidarisch zusammenhalten und diesen Auswüchsen mit Zivilcourage begegnen. Demokratie ist in unseren Zeiten leider kein Selbstläufer mehr, sie will tagtäglich erkämpft und verteidigt werden. Es kann und darf nicht sein, dass eine Minderheit das friedliche Zusammenleben der Menschen vergiftet, die politische Agenda bestimmt und den Versuch unternimmt, den Rechtsstaat schrittweise zu delegitimieren. Wo die Gesundheit der Bevölkerung wider besseres Wissen gefährdet wird, sind der individuellen Freiheit Grenzen zu setzen, denn spätestens da artet sie in Verantwortungslosigkeit aus. Lasst uns also im Sinne des Allgemeinwohls und im Gedenken an die zahllosen von der Pandemie verursachten Todesopfer gemeinsam und mit allen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln an der Bekämpfung der Pandemie arbeiten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, um möglichst rasch wieder zu einer „normalen Lebensführung“ zurückkehren zu können.

 

Josef Duregger

Markus Falkensteiner

Reinhold Falkensteiner

Leonhard Niedermair

Coronablues – ostern 2020

ein virus kam jüngst in unsere welt
wir hatten uns sowas nicht vorgestellt
denn wir wähnen uns unglaublich schlau
und stehlen der natur tagtäglich die schau
mit unserem technologischen firlefanz
sie krönt uns nun mit einem kranz
den sie uns aus china kassibert
weil man dort recht hörig fiebert
und obendrein per app überwacht
die menschen total gefügig macht
die diktatur funktioniert auf tadellose weise
wo es hakt hilft sie nach ganz leise
löscht aus den bevölkerungsregistern
die kritiker dichter und andere philister
wie sie es nennt
weil sie freies denken nicht kennt
auch die ignoranz ist virulent auf twitter
diese wahrheit ist für demokraten wirklich bitter
nun sind wir bedient ohne recht zu wissen
die lage ist in vielen ländern beschissen
lockdown heißt auch bei uns die devise
totaler stillstand nach adam riese
wir schließen k u r z mal die grenzen
wurscht was die flüchtlinge auf lesbos denken
oder die nachbarn in der europaregion
eine laune der geschichte was ist das schon
haben mit uns selbst genug zu schaffen
löcher bereits im haushalt klaffen
du bleibst daheim mit frau und kindern
das wird zwar dein persönliches einkommen mindern
dafür aber hast du jetzt viel zeit nachzudenken
kannst deinen lieben endlich aufmerksamkeit schenken
die wohnung putzen und den keller ausräumen
von einem normalen leben träumen
mit den verwandten telefonieren
und nie auch mal kurz die nerven verlieren
auf engstem raum in totaler isolation
herrscht bisweilen dennoch oft ein rauer ton
aber ausrutscher nehmen wir in kauf
das ist nämlich des lebens realer lauf
die politik soll dieses dilemma lösen
hie die braven dort die bösen
auseinanderhalten und klar trennen
die regeln muss ein jeder kennen
die eigene suppe kocht jedes land
das liegt seit t r u m p wohl auf der hand
das wohlergehen der nation steht auf dem spiel
ein gesunder egoismus ist das ziel
was der globale markt zugrunde richtet
fühlt sich die nation zu sanieren verpflichtet
doch leider haben alle zu spät erkannt
dass solidarität nur auf dem papiere stand
mit worten schmücken sich viele narren
wollen in der wählergunst verharren
oder sich über die krise sogar profilieren
wer nicht hoch pokert wird verlieren
sollen es doch die virologen und ärzte richten
die menschen heilen erfüllen die pflichten
dann wird der spuk schon ein ende nehmen
ohne dass wir uns allzusehr grämen
weil wir gespart am falschen ort
das ist leider ein schmerzlich klares wort
das aber wohl niemand hören will
auch die wutbürger bleiben seltsam still
so stehn wir vor einem scherbenhaufen
in den friedhöfen türmen sich zu haufen
die gräber mit unseren senioren
sie haben wir leider für immer verloren
es bleibt uns nicht einmal zeit zu trauern
diese gesellschaft ist wirklich zu bedauern
die statistik hat momentan hochkonjunktur
die parabeln der fallzahlen glauben wir stur
heilig und sind stolz auf unsere aufgeklärte zivilisation
denn finstere epochen hatten wir schon
als die mythen noch unser narrativ erzählten
den menschen zum bewahrer der natur erwählten
doch geist und vernunft haben alles durchdrungen
weltrekorede sind durch menschliche hybris gelungen
im anthropozän steuert der mensch den planeten
wenn es sein muss sogar mit atomraketen
wenn wir konsequent neoliberal kapitalistisch denken
wird uns das virus weitere bescherungen schenken
doch wer verzichtet auf wohlstand und gewinn
ist das nicht des lebens letzter sinn
bildung und kultur müssen sich bescheiden
künstler sind es gewohnt zu leiden
drum lasst uns die beschränkung der freiheit feiern
das hören wir zurzeit auf allen leiern
ehrlich gesagt wüsst ich‘s auch nicht besser
es ist ein tanz auf der schneide der messer
die schon gewetzt sind für den fall des falles
gehorsam als lebenskunst das ist momentan alles
und bitte auch in zukunft kein handshake
ist vielleicht auch unsere demokratie ein fake

 

josefduregger